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Wie ihn einst die Schulstunden nicht gefesselt haben, so wird er sich auch der eigentlichen Arbeit für die Schule, der pflichtmäßigen und der privaten, sehr wenig gewidmet haben. Seiner ganzen Anlage nach war er ein begeisterter Leser. Hier­bei hat er wohl – es liegt dies zum Teil auch in der Zeit, kurz vor und nach 1840 – tiefer geschürft, als seine Brüder, selbst als der ältere, der erst als Rechtskandidat von der Be­wegung der Zeit so recht ergriffen wurde. Hermanns Jugend fällt sowohl in die Zeit der Romantiker, als auch in die des jungen Deutschland. Lebhafter und lebhafter wurde in jener Zeit das Interesse für die Literatur des Tages. Schon als Sekun­daner begann er, mächtig zu lesen. Er vertat sein Taschengeld – es war zunächst wöchentlich ein Sechser! – in der Leih­bibliothek und steckte sich ab und zu deswegen noch in kleine Schulden. Viele Bücher nennt er als von ihm genossen, viele hat er gewiß gar nicht genannt oder der Bericht über sie war den Lücken zugedacht, die in seinen Aufzeichnungen sind. Einiges sei erwähnt.

Als echten deutschen Jüngling hat ihn Schillers Don Carlos, den er erst im Alter von 18 Jahren las, entzückt. Ich selbst habe ihn schon mit 12 3/4 Jahren in jener berühmt gewordenen Aufführung November 1863 gesehen, als König Johann das Zusammenspiel Bogumil Dawisons als König Philipp, Emil Devrients als Marquis Posa trotz ihrer Verfeindung befohlen hatte. Her­mann Rachel fühlte sich – es war 1837 – mächtig erschüttert. „Eine neue Fundgrube für die jugendliche Phantasie! Wie viele Anklänge eigner Gefühle; wie oft glaube ich mich idealisiert wiederzufinden! Nun erwachte der heiße Wunsch, dies Stück auf der Bühne zu sehen, der auch bald befriedigt ward“ – so trägt er ein. Wie vieles muß er von Goethe gelesen haben, wenn er so beiläufig erwähnt, wie ihn Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften stark beschäftigt haben und wie dies oder jenes Vorkommnis ihn an Stellen in diesen Werken erinnert. Bescheiden sagt er vom „Meister“: ich glaube, ihn zu verstehen. Später macht er sich auch an die „Novelle“ und gar an den Westöstlichen Divan. Wenn er einmal schreibt: ich versuchte, in Jean Pauls Hundsposttagen zu lesen, so wäre denkbar, daß er

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Paul Rachel: Altdresdner Familienleben. Verlag des Vereins für Geschichte Dresdens, Dresden 1915, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Paul_Rachel_Altdresdner_Familienleben.pdf/191&oldid=- (Version vom 14.3.2024)