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Bastei; dazu Zusammentreffen mit Wehlener und Hohensteiner „Herrschaften“. Merkwürdigerweise ist der Weg auf der Rück­fahrt einige Male so schlecht, daß der junge Mann aussteigt und den Wagen mit halten muß, damit er nicht zu sehr ins Schwanken gerate.

Nun aber große Stadtfestlichkeit: Die Neustädter Schützen­gilde feiert ihr 50 jähriges Jubiläum! Ein stattlicher Zug, zehn weißgekleidete Mägdlein mitten drin. Der alte Herr Postmeister, der Altkönig, der Schützenmarschall ziehen preislich daher. Wer unter den Mädchen am herrlichsten strahlt, braucht nicht erst ge­sagt zu werden. Vor dem Schießhaus wird ein Kreis gebildet, der Herr Stadtschreiber hält eine Rede, Lieder werden gesungen und vielmals wird Hoch gerufen. Obwohl es am Vormittag ist, geht es in den Saal und eine Polonaise wird geschritten, ehe man sich stärkt. Der alte Postmeister ist etwas wackelig ge­worden; „Graf Marcolini“ reicht ihm seinen Arm und führt ihn nach Hause. Gerührt lädt ihn dieser zu Mittag ein, doch er hat andere Pflichten!

Am Abend ist der große Schützenball auf dem herrlich er­leuchteten Schießhaus. Freilich treten nur 10 Paare an, und eine Festpolonaise kann nicht getanzt werden, da niemand wagt, sie anzuführen. Er gibt sich dem Tanze mit Leidenschaft hin, so daß der Herr Pastor wohl sagt, man möchte ihm Zügel an­legen. Dabei versäumt er, eine etwas ältliche Honoratiorentochter zum Tanze „aufzuziehen“; er hat gar zu viele und zu herrliche Pflichten. Zum Schluß wird er, der in der Residenz bei Herrn Casorti tanzen gelernt und sich mit seinem älteren Bruder schon in der Harmonie versucht hat, so lange „turbiert“, bis er einen Kotillon anstellt. Zwei Stunden hat der Graf Marcolini den erstaunten Neustädtern immer neue Touren vor­geführt. Onkel und Pastor lachen sich halbtot über den Unsinn, den er erfindet. Die von ihm verschmähte Jungfrau aber ruft wohl: „Herrn Rachel kann der Kuckuck holen mit seinen Extra­touren!“ Als sie nun gar dem Herrn Provisor eine Tour abschlägt, da ruft wohl der Onkel zu den Seinen derb, wie er nun einmal war: „Die alte Fiedel, die alte Schachtel, die sollte froh sein, wenn sie jemand zum Tanz auffordert! Ha, ha, ha!“

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Paul Rachel: Altdresdner Familienleben. Verlag des Vereins für Geschichte Dresdens, Dresden 1915, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Paul_Rachel_Altdresdner_Familienleben.pdf/155&oldid=- (Version vom 13.3.2024)