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Er wundert sich, daß der Apotheker in Hohnstein zugleich den „Italiener“ mache, d. h. Delikatessen verkauft. Manches neue lernt er kennen. So spielt der alte Vater seines Onkel Zumpe die aus lauter Glasglocken bestehende Harmonika, ein Instru­ment, das Ende des 18. Jahrhunderts zu Zeiten des Kapell­meister Naumann und Elisas von der Recke soviel Aufsehen er­regt hatte, nun aber fast vergessen war.

Bedeutenden Eindruck machte die Schwester seiner Tante auf ihn. Ein französischer Offizier, der 1813 in ihrer Heimat­stadt Wittenberg in Quartier gelegen, hatte sie kennen gelernt, um sie geworben und sie mit nach Frankreich als angetrautes Weib nehmen können. Sie hatten lange in Givet, an der belgisch-französischen Grenze gelegen, gelebt, von dort aus große Reisen nach Paris, Florenz und Rom unternommen. Nach dem Tode ihres Mannes hatte sie als Madame Lamarc ihre Verwandten in Deutschland besucht und lebte nun für einige Monate bei der Schwester in Neustadt. Sie war nach Sprache und Sitte in den 17 Jahren – echt deutsch! – sehr stark französisch geworden und veranlaßte auch sofort den Dresdner Primaner, sich seiner ge­ringen Künste im Französischen zu bedienen. Im übrigen war sie eine heitere, aufgeräumte Person und wußte den jungen Mann sehr geschickt zu nehmen. Als es zuletzt zum Abschied kam, gab sie ihm für sein künftiges Studentenleben noch allerhand gute Ratschläge und war dabei so liebenswürdig, daß er ihr die Hand küßte. Ja, als er im Laufe des Jahres noch einmal kurz nach Neustadt kam, fehlte ihm in der etwas „kräftigen“ gesellschaftlichen Luft der Kleinstadt die Vertreterin feineren Lebens. Sie hat sich nach ihrer Rückkehr ins Land der Franzosen noch einmal verheiratet, kam, zum zweiten Male verwitwet, wieder nach Deutschland und zwar nach Dresden zurück. Sie steht als ein Überbleibsel napoleonischer Zeit noch vor meinem geistigen Auge mit ihren seidenen Vorstecklöckchen, ihrem halb deutsch, halb französisch gehaltenen Gerede, ihrem Lächeln und ihrer Sehn­sucht nach den Tuilerien und dem Louvre und anderen französischen Herrlichkeiten – die alte Madame Lorget, geb. Neumann!

Damals im Oktober 1831 verlebte der junge Kreuzschüler herrliche Zeiten bei den lieben Verwandten. Wie gern wäre er

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Paul Rachel: Altdresdner Familienleben. Verlag des Vereins für Geschichte Dresdens, Dresden 1915, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Paul_Rachel_Altdresdner_Familienleben.pdf/107&oldid=- (Version vom 8.3.2024)