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Die Krankheiten der Geschlechtsorgane sind im Allgemeinen sehr selten; am häufigsten ist noch die Blenorrhöe der Harnröhre, seltener das primäre und ganz selten das indurirte Geschwür. In den letzten 10 Jahren sind in dem Dienstboten-Krankenhaus nur ganz wenige Fälle in Behandlung gekommen, in den letzten 7 Jahren gar kein Fall. Diese Erscheinung ist um so auffallender, als die Arbeiterbevölkerung sehr zahlreich ist und fortwährend ab- und zugeht. Zur Zeit des Eisenbahnbaues (1866–69) und nach demselben scheint es in dieser Beziehung bedeutend ungünstiger gewesen zu sein. Nach einer vom K. Oberamtsphysikat aufgestellten Statistik der venerischen Krankheiten (in Folge der Enquête der englischen Regierung über Verbreitung der Syphilis in Europa) von den Jahren 1860–69 waren in den genannten Jahren in ärztlicher Behandlung 398 Personen, 283 männl. und 115 weibliche. Im Krankenhaus waren im Jahre 1869 wegen Gonorrhöe 4, wegen primärer und sekundärer Syphilis je 3, wegen tertiärer 2 Personen in Behandlung. Prostituirte gibt es bei einer Bevölkerung von über 7000 Einwohner in der Oberamtsstadt nicht.

Die Vorfälle der Scheide und des Uterus und die Hernien beim weiblichen und beim männlichen Geschlechte sind im Bezirke relativ selten. Operationen des eingeklemmten Bruchs kommen sehr selten vor.

Bezüglich der Ernährungsverhältnisse des Bezirks besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Stadt und Land. In der Stadt genießt jetzt die überwiegende Mehrzahl der Einwohner täglich frisches Fleisch, während in früheren Jahrzehnten der tägliche Genuß von frischem Fleisch für einen Luxus galt; der Konsum desselben hat sich in den letzten 10 Jahren beinahe um das Doppelte gesteigert (1869 zählte Tuttlingen 16 Metzger, jetzt 22). Nach dem großen Brand von 1803, wo die ganze Einwohnerschaft um all’ ihre Habe kam und wo in Folge der drückenden Kriegssteuern und bei dem Mangel an Handel und Verkehr die Bevölkerung sehr arm war, mußte sich dieselbe in jeder Beziehung einschränken. Im Laufe der Zeit wurden die Leute durch unermüdlichen Fleiß und ausdauernde Sparsamkeit wieder wohlhabend und mit dem zunehmenden Wohlstand steigerte sich auch der Verbrauch. Nichts destoweniger hat sich trotz der größeren Wohlhabenheit ein nüchterner Sinn für Häuslichkeit und Sparsamkeit erhalten, der auch im Genuß die richtigen Grenzen findet.

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Karl Eduard Paulus: Beschreibung des Oberamts Tuttlingen. H. Lindemann, Stuttgart 1879, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OberamtTuttlingen0127.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)