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Lorenz Christoph Mizler (1711–1778): Mizler Musikalische Bibliothek Bd4 1754

Wenn gute Componisten einander ihre Arbeit in Freundschaft beurtheilen, so ist solches der Weg zur Vollkommenheit. Kein Mensch ist vollkommen, und ein Meister siehet in eins andern Künftlers Arbeit das Vollkommene und Unvollkommene viel besser als der Verfertiger derselben. Die eingepflanzte Eigenliebe der Menschen von der Natur bringt es so mit sich, daß die meisten von andern nicht gern sich vollkommener machen lassen, das ist, ihre Fehler zu ihrer Verbesserung weisen. Wenn solches aus unreinen Leidenschaften herkommt, so haben sie einiger massen recht. Die aber von ihren guten Freunden keinen guten Rath annehmen wollen, geben zu verstehen, daß sie sich für unverbesserlich, das ist, für mehr als Menschen halten, welches wunderlich ist. Vernünftige Kenner aber und grose Meister nehmen es niemals übel, wenn andere gleichfalls gute Kenner und Meister an ihrer Arbeit ohne Absicht zu beleidigen, was mit Verstand und Beweiß erinnern. So machten es die grosen drey Poeten am Hofe des Kayser Augusts, Horaz, Virgil, und Quin[c]tilius Varius, Sie beurtheilten zuvor einander ihre Gedichte, ehe sie solche herausgaben, und dadurch sind sie so grose Poeten geworden, die eine so grose Hochachtung bey der Nachwelt erhalten. So machten es auch die alten grosen Redner. Cicero selbsten, da er schon den Gipfel der Beredsamkeit erstiegen, ließ sich noch von seinen Freunden beurtheilen, und deswegen ist er auch so weit darinn gekommen, daß er zu unsern Zeiten

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Lorenz Christoph Mizler (1711–1778): Mizler Musikalische Bibliothek Bd4 1754. Mizlerischer Bücher-Verlag, Leipzig 1754, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Mizler_Musikalische_Bibliothek_Bd4_1754.pdf/114&oldid=- (Version vom 6.12.2023)