Przemysl, den 9. Oktober 1914, abends.
Die Russen hatten in den letzten Tagen fabelhafte Verluste beim Stürmen unserer Werke. Erst jetzt erfährt man Einzelheiten über die furchtbaren Kämpfe, die uns Tag und Nacht umtoben und deren dröhnende Stimme unablässig über uns hinrollt.
Am gewaltigsten war der Angriff der Russen bei Siedliska, wo sie nachts in massigen Achterreihen stürmten, trotz der grauenhaften Verluste von den Offizieren immer wieder vorgetrieben. Ein großer Teil der stürmenden Truppen war mit Drahtscheren zum Zerschneiden der Stacheldrahthindernisse ausgerüstet.
Unsere Leute bewahrten äußerste Ruhe und Beherrschung. Sie ließen den Feind auf kurze Distanz herankommen, dann arbeiteten unsere Scheinwerfer, und sämtliche Festungsgeschütze spien den heranstürmenden einen dichten Hagel von Kartätschen, Granaten und Schrapnells entgegen, unaufhörlich unterstützt von den knatternden Lagen der Maschinengewehre.
Das furchtbare Feuer warf den Feind in ganzen Reihen nieder, zu Hunderten und Hunderten. Es war ein wahnwitziges, tollkühnes Anstürmen in den offenen Rachen des Todes hinein, von dem keiner zurückkam. Sie hingen zwischen den Stacheldrahthindernissen, erstarrt in der Stellung, die sie eingenommen in dem Augenblick, wo der Tod sie erreichte.
Und immer wieder und wieder fluteten sie heran in dichten, unabsehbaren Kolonnen, über die Leichen der Gefallenen hinweg, dem eigenen Tode entgegen.
An einer einzigen Stelle gelang es einer kleinen Abteilung, bis in die erste Tranchee eines Stacheldrahthindernisses einzudringen. Dort kam es zu einem wütenden Ringen, Brust an Brust mit den Unseren, die den
Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/56&oldid=- (Version vom 1.8.2018)
