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bedeutenden Rohstofflieferanten oder gar Getreideproduzenten darstellt. Das mögen sich alle Schwärmer für Vorderasien hinters Ohr schreiben.

Den ethnographischen, wirtschaftlichen und politischen Kern des Türkischen Reiches sieht auch Philippson wie viele andere in Kleinasien. Ob sich die anderen Teile werden halten lassen, inwieweit und unter welchen Vorbedingungen sie zur Stärkung der Türkei beitragen können, erörtert Philippson nicht. Eine aufmerksame Lektüre seiner Arbeit kann aber auch in dieser Beziehung manche Anhaltspunkte finden. Hingegen tritt Philippson entschieden gegen die Aufgabe Konstantinopels ein, dessen Verlust auch den Kleinasiens mit sich ziehen müßte. Damit wäre der Untergang des Türkischen Reiches nur eine Frage kurzer Zeit, meint Philippson.

Aus dem „Vorwärts“.


Vermischtes.

Wahn und Irrtum im Leben der Völker. Als derzeitiger Rektor der Universität Tübingen hatte sich Prof. Gaupp zur Festrede am Geburtstage des Königs von Württemberg das zeitgemäße Thema erwählt: „Wahn und Irrtum im Leben der Völker“. Die Frage, ob es geistige Volkskrankheiten – einen Völkerwahn – gibt, muß die ärztliche Wissenschaft verneinen, während der Kulturhistoriker sie angesichts der Greuel des Hexenwahns, der religiösen, politischen und wirtschaftlichen Volkserregungen aus Vergangenheit und Gegenwart zu bejahen geneigt ist. Was man Wahn eines Volkes oder Volksteiles nennt, sind Wirkungen der Suggestion, die von Kranken und Gesunden, von leidenschaftlich begeisterten Schwärmern und kühlen Betrügern ausgeübt werden.

Voraussetzung aller Suggestion ist die geistige Lenksamkeit; handelt es sich um aufgepfropfte Ideen, die gläubig übernommen, aber auch leicht wieder abgestreift, nicht wie der Wahn des Verrückten in tiefem, oft schmerzlichem Erleben erzeugt werden. So grundverschieden die „suggerierte Idee“ vom Wahn eines Geisteskranken ist, kann sie doch gelegentlich in gewissen Epochen der Geschichte eine Macht über die Gemüter ausüben, die dem Wahn des Kranken nicht viel nachzugeben scheint; ihrem Wesen nach ist sie

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Menschen- und Völkerleben 1 (1916), Heft 6/7. Langguth, Esslingen am Neckar 1916, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Menschen-_und_Voelkerleben_1916_Heft_6-7.pdf/27&oldid=- (Version vom 25.2.2024)