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beispiellos traurigen äußeren und inneren Bedingungen, deshalb ist uns diese Erinnerung so kostbar und unentbehrlich, ja eine Gewähr für die Zukunft.

Und in dieser Rettung der Kulturbedeutung der Revolution, ist es durchaus nicht unsere angebliche parteiliche Vorliebe für revolutionäre Zeiten, die unser Urteil bestimmt. Es war einer der größten Denker des deutschen Volkes, es war Immanuel Kant, der einmal, wie schon so viele vor ihm, die durchlaufene Bahn der Menschheitsgeschichte überschauend, die bange Frage aufwarf, ob es denn vorwärts gehe oder ob nicht am Ende ein höhnendes Schicksal die Menscheit im Kreise führe, wenn sie nicht gar im schrecklichen Verfall einem späten, doch sicheren Untergang entgegenstrebe. Und der grübelnde Geist des Denkers konnte nicht zur Gewißheit gelangen. Doch plötzlich sah er den festen Grund, darin sich sein Wissen zusamt seiner Hoffnung festankern durfte. Wenn es eine Begebenheit in der Geschichte gäbe, bei der sich eine neue Denkungsart der Menschen kundgegeben hätte, die ganz abstäche von ihrem gewöhnlichen Egoismus und Kleinkram, wenn sich irgendwo eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnahme auf der einen Seite gegen die auf der anderen Seite zeigte, und dies selbst mit Gefahr des eigenen Wohles; wenn auf diese Weise sich ein Charakter des Menschengeschlechtes überhaupt offenbarte, der zugleich wegen der Uneigenützigkeit ein moralischer Charakter wenigstens der Anlage nach wäre, dann dürfte man, so schloß Kant, davon nicht nur auf den Fortschritt der Menschheit im ganzen zum Besseren hoffen, nein, dann wäre dies selbst schon ein solcher Fortschritt. Und eine solche Begebenheit fand Kant in der französischen Revolution, die doch an Blutvergießen und Gewalttätigkeiten aller Art jede spätere Revolution (ich spreche wieder nicht von den Reaktionen) übertraf. Die allgemeine Teilnahme also, der Enthusiasmus eines Volkes bei dem Spiele seiner großen Umwandlungen (Revolutionen), das ist nach Kant — weit entfernt, etwas Strafwürdiges, Schändendes zu sein, — die alleinige Gewähr für den Fortschritt der menschlichen Angelegenheiten. „Denn aller Enthusiasmus“, so lautet im Wesen seine Begründung, „geht auf das Idealische und rein Moralische.“

Ein ganzes Volk, getragen von diesem Enthusiasmus, ein ganzes Volk, durchdrungen von einem neuen Geiste, der stürmische Pulsschlag der Geschichte in jedem Einzelnen durchzuckend sein sich weitendes Selbst und es erfüllend mit der Größe des Augenblicks, — wessen Herz erwärmte sich nicht vor solchem Bilde? Und mußte nicht jede Zeit, in der sich ein solches Völkererlebnis erfüllte, eine glückliche, große, heilbringende Zeit sein?

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Max Adler: 1848. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1905, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Max_Adler_-_1848_20.jpg&oldid=- (Version vom 7.10.2018)