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Invariantentheorie, — dies alles wohlverstanden für Gebiete von beliebig viel Dimensionen — als geläufig vorauszusetzen, während ich doch recht gut weiß, daß nicht nur die zahlreich anwesenden Physiker, die ich hier als Gäste besonders willkommen heiße, sondern auch die Mehrzahl der jüngeren Fachmathematiker, die unserer Gesellschaft angehören, sich mit diesen Dingen sozusagen nur per distans beschäftigt haben. Viele von Ihnen sind bisher zweifellos der Meinung gewesen, daß die projektive Geometrie, nachdem sie so lange im Vordergrunde der mathematischen Produktion stand, heute doch nur die Bedeutung einer mathematischen Spezialdisziplin beanspruchen könne. Da ist es ja an sich sehr nützlich, daß mein heutiger Vortrag der entgegengesetzten Auffassung Ausdruck geben muß, daß nämlich die projektive Geometrie im Rahmen der von uns allen anzustrebenden mathematischen Gesamtbildung als gleichwertig anzusehen sei mit anderen grundlegenden Fächern, wie etwa Algebra oder Funktionentheorie. Aber dieses ideale Moment kann doch die Schwierigkeit, die sich aus dem tatsächlichen Fehlen ausreichender Vorkenntnisse ergibt, nicht aus der Welt schaffen. Ich greife also zu der Methode, die unter derartigen Umständen noch am ehesten Erfolg verspricht: daß ich Ihnen die Dinge nach ihrem historischen Werdegang vorführe, und muß Sie übrigens bitten, daß Sie dabei die Lebhaftigkeit, mit der ich von der Wichtigkeit des projektiven Denkens spreche, als ein Äquivalent für die fehlende Ausführlichkeit in den Einzelangaben hinnehmen.

Ich beginne, dem Gesagten entsprechend, damit, daß ich Ihnen Cayleys Originalarbeit von 1859 vorlege, die sechste einer Reihe von Abhandlungen, in denen Cayley damals seine Auffassungen und Kenntnisse auf dem Gebiete der Invariantentheorie linearer Substitutionen zusammengefaßt hat (a sixth memoir upon Quantics, Bd. 149 der Philosoph. Transactions der R. Society, — Bd. 2 der Werke, S. 561 ff.). Beim Durchblättern werden Sie zunächst keinen besonderen Eindruck haben, weil vor allen Dingen Einzelheiten über quadratische Formen entwickelt werden; es ist aber doch einfach, die Fragestellung und ihre glänzende Beantwortung herauszuheben. Die Entwicklung der Geometrie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hatte dahin geführt, den Gesamtinhalt der Raumlehre in zwei verschiedene Gebiete zu sondern: die Geometrie der Lage (deskriptive Geometrie), die von solchen Eigenschaften der Figuren handelt, welche bei beliebigem Projizieren ungeändert erhalten bleiben, und die Geometrie des Maßes, deren Grundbegriffe (Abstand, Winkel usw.) diese Invarianz keineswegs besitzen. Diese Trennung hatte sich im Bewußtsein der damaligen Mathematiker festgesetzt, trotzdem bereits Poncelet die entscheidende Bemerkung gemacht hatte, daß, für eine allgemeine Auffassung,

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Felix Klein: Über die geometrischen Grundlagen der Lorentzgruppe. Julius Springer, Berlin 1921, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lorentzgruppe_(Klein).djvu/2&oldid=- (Version vom 1.8.2018)