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1811), vom romantischen Geist ergriffen. Eine Beziehung zwischen der märkischen Sandheide und dem romantischen Märchenland scheint kaum zu finden. Kleist fand sie, indem er das Märchen realisierte. Den Traum verwirklichte. Nüchtern raste. Einen Rausch der Sachlichkeit empfand. Die Phantasie entzauberte. Bei ihm rauscht kein Brunnen in der verschlafenen Sommernacht: sondern ein Krug geht zum Wasser – bis er bricht. („Der zerbrochene Krug.“) Den intellektuellen Frauen der Romantiker stellt er jene süße, kindliche, unwissende, reine Gestalt des Käthchens von Heilbronn gegenüber: die liebt, weil sie lieben muß. Die unerschütterlich an ihr Herz glaubt, das Gott ihr doch verliehen, und die gekrönt war, längst ehe sie gekrönt ward. Welch ein Gegensatz zwischen ihr und der rasenden Amazone Penthesilea, die den Pelion auf den Ossa türmen will, um den Himmel zu erreichen. Aber ihre Kraft erweist sich als zu schwach. Die Berge bröckeln aus ihrer Hand, und schließlich stürzen sie donnernd über ihr zusammen. Es ist die Tragödie der grenzenlosen Forderung: alles oder nichts. Es ist die Tragödie des Menschen, der über sich hinaus will, aber niemals über sich hinaus kann. Penthesilea ringt mit den Göttern Griechenlands. Der „Prinz von Homburg“ mit dem preußischen Gotte der Disziplin. Pflichterfüllung bis zum äußersten war dem Homburgischen Prinzen gesetzt. Er hat sie verletzt und soll den Tod erleiden. Zuerst erscheint ihm der Tod als etwas Unfaßbares, er bricht unter der Last der Furcht zusammen: aber es gelingt ihm, sich emporzureißen, und das Gesetz der inneren Pflicht erkennend, sich ihm freiwillig zu beugen. Er wird aus einem unfreien zu einem freien Menschen. Die Todesnähe bringt ihm auch das wahre Leben der sittlichen Notwendigkeiten nahe. Er hat den Tod in sich überwunden, so braucht er nicht mehr zu sterben.

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_059.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)