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Vorrede.

sten Verzicht thun würde, doch ein Phänomen, das Aufmerksamkeit und Nachsinnen verdient. Sie ist offenbar die Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urtheilskraft[1] des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt und eine Auffoderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nemlich das der Selbsterkentniß aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bey ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose An-

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  1. Man hört hin und wieder Klagen über Seichtigkeit der Denkungsart unserer Zeit und den Verfall gründlicher Wissenschaft. Allein ich sehe nicht, daß die, deren Grund gut gelegt ist, als Mathematik, Naturlehre etc. diesen Vorwurf im mindesten verdienen, sondern vielmehr den alten Ruhm der Gründlichkeit behaupten, in der lezteren aber sogar übertreffen. Eben derselbe Geist würde sich nun auch in anderen Arten von Erkentniß wirksam beweisen, wäre nur allererst vor die Berichtigung ihrer Principien gesorgt worden. In Ermangelung derselben sind Gleichgültigkeit und Zweifel und endlich, strenge Critik, vielmehr Beweise einer gründlichen Denkungsart. Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Critik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Maiestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demienigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.
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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite (11). Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_V_11.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)