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Voltaire: Kandide. Erster Theil

Der Greis nötigte die beiden Fremden auf ein mit Kolibrisdunen ausgestopftes Sopha, und lies ihnen in diamantenen Geschirren allerhand Likörs vorsetzen; hierauf befriedigte er ihre Neugier folgendermassen:

Ich bin hundertundzweiundsiebenzig Jahr alt, und habe von meinem Vater, dem Königlichen Stallmeister die erstaunlichen Meutereien gehört, die in Peru vorgefallen sind, und wovon er Augenzeuge gewesen. Das Reich, worin wir uns befinden, ist der Stammsiz der Inkas. Um einen andern Welttheil zu unterjochen, verliessen sie ihn höchst unweislich, und wurden von den Spaniern ganz aufgerieben.

Die Fürsten von ihrem Geblüt, die in ihrem Vaterlande blieben, waren weiser; sie liessen die Verordnung ergehn, daß kein Einwohner je unser kleines Reich verlassen sollte: ein jedweder hat sich darnach gefügt, und eben darum besizen wir unsre Unschuld und Glükseligkeit noch völlig. Die Spanier haben von diesem Lande einen dunkeln Begrif gehabt und es Eldorado genannt, und ein Engländer, der Ritter Raleigh, hatt’ es, vor hundert Jahren ziemlich nah’ im Wurf; dennoch sind die uns umringenden unersteigliche Felsen, und unzugangbaren Abgründe eine Brustwehr gegen die Raubgier der Europäischen Nationen gewesen, die – was uns unbegreiflich ist –

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Voltaire: Kandide. Erster Theil. Berlin: Christian Friedrich Himburg. 1782, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kandide_(Voltaire)_099.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)