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Dorten ist dein kleines Söhnlein,
Ist dein lieber, goldner Apfel,
Steckt im Sumpfe bis zum Gurte,

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In der Heide bis zum Arme.“

     Marjatta, die arme Jungfrau,
Sucht den Sohn nun in dem Sumpfe;
Findet ihren Sohn im Sumpfe,
Bringt von dort ihn fort nach Hause.
     Darauf wuchs der Sohn Marjatta’s,
Wuchs der Knabe voller Schönheit;
Nicht wußt’ man ihn zu benennen,
Keinen Namen ihm zu geben,
Blümlein nannte ihn die Mutter,

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Fremde einen Müßiggänger.

     Ward gesuchet, wer ihn taufen,
Wer besprengen könnt’ mit Wasser,
Kam ein Alter ihn zu taufen,
Wirokannas ihn zu segnen.
     Sprach der Alte diese Worte,
Redet selbst auf diese Weise:
„Werde einen Zaubervollen,
Werd’ den Armen hier nicht taufen,
Wird er nicht zuvor beprüfet,

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Nicht beprüfet und besichtigt.

     Wer wohl sollte ihn beprüfen,
Wer beprüfen, wer beschauen?
Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Kam den Knaben zu beprüfen,
Zu beprüfen, zu beschauen.
     Wäinämöinen alt und wahrhaft
Fället darauf dieses Urtheil:
„Da der Sohn vom Sumpf empfangen,

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Von der Beere ist entstanden,

Soll man ihn zu Boden legen,
Auf die beerenreiche Wiese,
Oder zu dem Sumpfe führen,
Mit dem Baum den Kopf zerschlagen!“
     Sprach das Preiselbeerensöhnchen,
Rief das zwei der Wochen alte:
„O du Alter ohne Einsicht,
Ohne Einsicht, voller Throheit,
Wie du dumm das Urtheil fälltest,

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Schlecht gedeutet die Gesetze!

Wurdest doch ob größrer Sünde,
Nicht ob Thaten größrer Dummheit
Selber du zum Sumpf geführet,
Nicht am Baum dein Kopf zerschlagen,
Als du als ein Mann voll Jugend
Deiner Mutter Kind verschenket
Als ein Lösgeld für dein Leben,
Um dich selber zu befreien.“
     „Wurdest damals nicht geführet

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Und auch später nicht zum Sumpfe,

Als du als ein Mann voll Jugend
Junge Mädchen sinken ließest
In der Meeresfluthen Tiefe,
Auf den schwarzen Schlamm des Bodens.“
     Tauft der Alte rasch den Knaben,
Segnet schnell das liebe Kindlein,
Daß es König von Karjala
Hüter aller Mächte werde.
     Ward der alte Wäinämöinen

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Darauf böse und verdrießlich,

Macht sich selber auf zu gehen
Zu dem Ufer von dem Meere,
Fing daselbst an laut zu singen;
Sang dort noch zum letzten Male,
Sang ein Boot sich reich an Kupfer,
Einen erzbeschlagnen Nachen.
     Setzet selbst sich an das Ende,
Ziehet auf des Meeres Rücken,
Singet noch bei seinem Scheiden,

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Redet so bei seiner Trennung:

„Laß die liebe Zeit nur hingehn,
Tage gehn und Tage kommen,
Man wird meiner schon bedürfen,
Nach mir schauen, nach mir blicken,
Daß ich neu den Sampo schaffe,
Daß ich neu das Spiel beginne,
Neu den Mond zum Himmel führe,
Frei die neue Sonne mache,
Da man ohne Mond und Sonne

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Wohl sich nie der Welt erfreuet.“
Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_294.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)