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Bist nun todt, die mich getragen,
Bist dahin, du liebe Mutter,
Staub schon ist dein Leib geworden,
Fichten wachsen auf dem Haupte,
Auf den Fersen dir Wachholder,
Auf den Fingerspitzen Weiden.“
     „Hab’ nun meinen Lohn, Bethörter,
Hab’, Unsel’ger, meine Strafe,
Daß mein Schwert ich dort gemessen,

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Daß die Waffen ich getragen

Zu dem Hofe von Pohjola,
Zu des Düsterlandes Gränzen:
Untergang ward meinem Stamme
Und getödtet meine Mutter.“
     Schaut sich um nach allen Seiten,
Siehet gar gelinde Spuren,
Die das Gras herab getreten
Und das Heidekraut zerdrücket;
Gehet um den Weg zu finden,

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Um die Richtung zu erspähen;

Zu dem Walde führt der Fußweg,
Dorthin leitet ihn die Richtung.
     Gehet eine Meil’, die zweite,
Eilet noch ein Stücklein Landes
In des schatt’gen Haines Dickicht,
In den Schooß der düstern Waldung;
Sieht dort ein verstecktes Hüttlein,
Eine kleine Winkelstube
In der Höhlung zweier Felsen,

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In der Mitte dreier Fichten,

Drinnen seine liebe Mutter,
Sieht sie dort, die greise Alte.
     Darauf freut sich Lemminkäinen,
Er, der Muntre, sehr im Herzen;
Redet Worte solcher Weise,
Läßt auf diese Art sich hören:
„Theure Mutter, die ich liebe,
Der das Leben ich verdanke!
Bist, o Mutter, noch am Leben,

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Theure Alte nicht entschlummert,

Glaubte dich schon längst gestorben,
Meinte, daß man dich getödtet,
Mit dem Schwerte dich vernichtet,
Mit dem Speere dich gemordet.
Weinte aus dem Kopf die Augen,
Meine Wangen mir zu Schanden.“
     Sprach die Mutter Lemminkäinen’s:
„Freilich bin ich noch am Leben,
Mußte damals wohl entfliehen,

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Im Verstecke mich verbergen,

In dem Dunkel dieses Haines,
In dem Schooß der düstern Waldung;
Kam mit Krieg das Volk des Nordens,
Zog zum Streit der ferne Haufen
Gegen dich, den Mühbeladen,
Gegen dich, den Unheilsvollen,
Brannte unser Haus zu Asche
Und zerstörte unsern Hofraum.“
     Sprach der muntre Lemminkäinen:

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„Mutter, die du mich getragen,

Sei du nur nicht trüber Stimmung,
Laß die Traurigkeit du fahren!
Werde eine neue Stube,
Eine bessere dir zimmern,
Werde nach dem Nordland ziehen,
Werd’ das Lempovolk vertilgen.“
     Sprach die Mutter Lemminkäinen’s,
Selber Worte dieser Weise:
„Lange bist du, Sohn, geblieben,

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Hast, o Kauko, du gelebet

Dort in jenen fernen Ländern,
Stets bei jenen fremden Thüren,
Auf der Landzung’ ohne Namen,
Auf dem unbenannten Eiland.“
     Sprach der muntre Lemminkäinen
Er, der schone Kaukomieli:
„War gar schön daselbst zu leben;
Wonniglich daselbst zu spielen,
Röthlich glänzten dort die Bäume,

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Bläulich schimmerten die Fluren,

Silbern dort der Tannen Zweige,
Golden dort der Heide Blumen;
Berge gab es dort aus Honig,
Felsen ganz aus Hühnereiern,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_185.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)