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Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant)

und vorsichtiger Hand den Schuh von dem verschwollenen Fuß, während Alois den Stock in die Ecke lehnte und den Rucksack so behutsam an einen Nagel hing, als sei er mit Eiern gefüllt, und in demselben nach den weiten, weichen Hausschuhen suchte, die zu dem eisernen Bestand jedes Bergsteiger-Rucksacks gehören. Felice lief dann nach einer Flasche Terlaner und frischem Wasser, während Robert die Neugierde der mit südlicher Lebhaftigkeit auf ihn hineinredenden Wirthin mit lakonischen Auskünften abspeiste. Der schon nach einer Stunde eintreffende Arzt, der keine nennenswerthe Verletzung zu konstatiren hatte, aber eine mindestens achttägige unbedingte Ruhe für nothwendig erklärte, die mehr thun müsse, als die Einreibungen, welche er verordnete, hatte groß Lust, den „Signor straniero“ in seinem Wägelchen mit hinüber nach Caprile zu nehmen, wo er im Hotel bessere Verpflegung und mehr Zerstreuung finden würde, aber Robert lehnte das Anerbieten ab. Nicht einmal der blaue Spiegel des Alleghe-Sees vermochte ihn zu reizen, und als der Arzt den dunklen, dankerfüllten und seltsam beredten Blick auffing, mit dem das Mädchen, ihr selber unbewußt, den Entscheid belohnte, war er sich mit der Weltkenntniß des Arztes darüber klar, daß alles weitere Reden überflüssig sei und daß sich zwischen den beiden schönen jungen Menschen eine jener Neigungen entspann, die freilich oft genug in Herzeleid und selbst Schande enden, die aber dennoch für den Beobachter immer ein interessantes und selbst verhärtete Gemüther mit Anwandlungen von Rührung heimsuchendes Bild bieten – ein Bild voll stiller Lieblichkeit, das mit Heimweh erfüllt nach den Tagen der eigenen illusionsfähigen Jugend.

Von dieser Erkenntniß waren natürlich die beiden Menschen, die der Zufall in seiner Laune zusammengeführt hatte, weit entfernt. Wohl entspann sich zwischen ihnen während der zehn Tage, die Robert’s Wiederherstellung zur Marschfähigkeit erforderte, ein beinahe trauliches Verhältniß, aber es überschritt nie die feine Grenzlinie, welche die Freundschaft von der Liebe scheidet, und die Plauderei, zu der Beide mit größter Erfindungsgabe immer wieder einen Anlaß herbeizuführen wußten, trug nie den Charakter der zärtlichen Werbung und sehr oft den der ernsthaftesten Unterhaltung. Die Bedienung des Rekonvaleszenten lag ganz in den Händen des jungen Mädchens, das sich öfter nach seinen Wünschen erkundigte, als durch dessen Pflichten bedingt war, und Robert entdeckte in sich eine Anlage zur Verstellung, von der er noch acht Tage vorher keine Ahnung gehabt hatte und die er heftig und entrüstet bestritten haben würde, wäre sie ihm Schuld gegeben worden. Er kämpfte nicht gegen seine Schwäche, sondern überließ sich derselben, um Felice recht oft rufen, sie recht oft um einen kleinen Dienst bitten, sich ihrer flinken und doch so geräuschlosen und gelassenen Bewegungen freuen und sie in eine Unterhaltung verwickeln zu können, der in der Regel erst ein gellender Ruf der Wirthin ein Ende setzte. Dabei war eine befremdliche Beobachtung zu machen. Während nämlich diese Rufe anfänglich erst nach längerer Zeit erfolgten, erschallten sie nach und nach fast unmittelbar, nachdem Felice Robert’s Zimmer betreten, und selbst einem so arglosen Gemüth wie dem seinen mußte das zuletzt auffallen, und er mußte auf den Gedanken kommen, daß hinter diesem Wechsel der Taktik seitens der auch sonst mürrischer werdenden Wirthin eine bestimmte Absicht stecke. Er fragte das Mädchen endlich geradezu, und diese erwiderte ihm, mit einem matten Versuch, zu lächeln, daß er sich beeilen möge, gesund zu werden, da man ihm sonst am Ende das Zimmer noch unter irgend einem Vorwand aufsagen werde. Robert sah erstarrt auf – die Augen des sonst so tapfern und in Wort und That so sichern schönen Geschöpfs waren feucht und ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie mit plötzlichem Entschluß fortfuhr: „Sie können nicht wissen, was im Werke ist. Sie wissen nur, daß ich eine entfernte Verwandte, eine Waise seit meinem zehnten Jahre bin, die man um Gottes Willen aufgenommen und erzogen hat. Sie haben mich’s bitter genug fühlen lassen, daß ich dafür in ihrer Schuld bin, aber ich würde ihnen trotzdem dankbar sein und unermüdlich und unverdrossen, wie früher, dienen, wenn sie mir nicht ihren einzigen Sohn, den Alberto, zum Manne geben wollten. Ich mag ihn nicht – er ist der hübscheste Bursch im Dorfe, aber jähzornig und hinterlistig, er hat weder für Menschen noch für Thiere ein rechtes Herz, und wenn er auch vor mir kriecht und mir schmeichelt – wie kann ich ihm trauen? Ich habe mir Mühe gegeben, meine Abneigung zu überwinden, um der Eltern willen, die mich auf den Händen tragen würden, wenn ich „ja“ sagte, ich bin schon mehr als einmal nahe daran gewesen, einzuwilligen, aber ich habe das entscheidende Wort immer wieder verschluckt und bin dann jedesmal froh gewesen, es nicht ausgesprochen zu haben. Er steht jetzt bei den Versaglieri – nächstens kommt er zurück und dann muß ich sprechen. Sie sind so viel klüger als ich, Sie kennen die Welt und die Menschen besser als ich, und wenn Sie auch ein Lutherischer sind – ich habe mehr Ver-trauen zu Ihnen, als zu unserem Kaplan. Wenn man ihn hört, sind die Lutheraner schlimmer als die Heiden; seit ich Sie kenne, weiß ich, daß das nicht wahr ist, und wie soll ich ihm nun glauben? Er dringt auch unablässig in mich, den Alberto zu nehmen, aber eine Stimme in mir ruft Tag und Nacht: ,Du kannst nicht!’ – sagen Sie mir nun, was ich thun soll. In Ihre Hände will ich mein Schicksal legen.“

Robert war bestürzt und schmerzlich erregt, aber gewissenhaft genug, keine übereilte Antwort zu geben. Ernst und nachdenklich erwiderte er, daß er ihr am nächsten Tage sagen werde, was sie nach seiner Ueberzeugung thun müsse – er wolle die Verantwortung auf sich nehmen, die sie ihm zuschiebe, aber dem entscheidenden Wort müsse ein reifliches Nachdenken vorausgegangen sein. Sein Herz sträubte sich ja dagegen, sich das schöne, im besten Sinne des Wortes vornehme Geschöpf, das ihm der süßesten Liebesleidenschaft fähig schien, als in einer Ehe ohne Liebe verkümmernd zu denken, aber er war ehrlich genug, sich gegenwärtig zu halten, daß keine Regung der Selbstsucht und des Neides sein Urtheil beeinflussen dürfe, daß er vor Allem kein Recht zur Eifersucht habe, da er ja nicht daran dachte, sie sich selbst zum Weibe gewinnen zu wollen. Unruhig und schlummerlos warf er sich bis zum Morgengrauen auf seinem Lager hin und her, bald berauscht von dem Gedanken, diesem aparten Menschenkind den rechten Weg zu zeigen und ihre Seele retten zu dürfen, bald erdrückt von dem Gedanken an die Verantwortung, die er damit auf sich nahm. Dennoch durfte er ihr schönes Vertrauen zu ihm nicht zurückweisen; er durfte sie, die er so gern Schwester genannt hätte, nicht allein lassen zwischen den Bestürmungen eines leidenschaftlichen Bewerbers, den Bitten seiner Eltern und den Einflüsterungen eines Priesters, der sich vielleicht von den allerweltlichsten Rücksichten leiten ließ und der als Priester (und obendrein als zur Ehelosigkeit verdammter Priester) wohl der schlechteste Rathgeber für ein bedrängtes Mädchenherz war, wenigstens für ein Herz, wie es in der Brust dieses instinktiv nach Wahrheit und Klarheit und reinen Verhältnissen ringenden und strebenden Mädchens pochte.

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Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant). Druck und Verlag J.H.W. Dietz, Hamburg 1887, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Illustrirtes_Unterhaltungsblatt_18_12_1887_Seite_3.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)