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Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant)

Weihnachten zweier Glücklichen.
Erzählung von Rudolf Lavant.

Die sengende Mittagsgluth eines Augusttages hatte die Bewohner des kleinen, hart an der Tyroler Grenze gelegenen Dorfes Rocca unter das Dach der gebräunten Holzhäuser gescheucht, die fast alle mit einer Veranda geziert und mit Szenen aus der Heiligengeschichte bemalt sind, oder wenigstens die Figur eines oder einer wunderthätigen Heiligen in oft fragwürdiger Wiedergabe zeigen, während auf der Gallerie der Veranda unabänderlich ein paar Nelkenbüsche prangen; will es doch die Sitte, daß jeder Bursch sich Sonntags von einem ihm wohlwollenden Mädchen eine rothe Nelkenblüthe schenken läßt, die er auf seinen Hut oder mit einer gewissen anmuthigen Koketterie hinters Ohr steckt. Die Stille und das Schweigen der Siesta brüteten über dem Ort, als sich demselben langsam zwei Bergsteiger näherten, von denen der Eine augenscheinlich ein Führer, der Andere einer jener Spitzeneroberer war, wie sie namentlich das mittel- und norddeutsche Flachland alljährlich in immer größerer Zahl hinabsendet in die grünen Thäler und wilden Schluchten und auf die silberhäuptigen, in einen blaugrünen Gletschermantel gehüllten Berge des schönen Tyroler Landes. Zwar die Kleidung und Ausrüstung der Beiden war dieselbe; die Füße staken in den schweren genagelten Bergschuhen, die graue Joppe mit dem verschossenen grünen Kragen hing wie ein Husaren-Dolman auf der rechten Schulter und das Wollhemd ließ den gebräunten Hals frei, während auf dem Rücken der grüne wasserdichte Rucksack hing und auf dem leichten Filzhut ein Sträußchen von Enzian, Edelweiß und Alpenrosen die muntere Farbenzusammenstellung der französischen Trikolore wiederholte. Aber wenn auch jeder Anklang an das bereits verdienter Lächerlichkeit verfallene renommistische Bergfexen-, wie an das ebenso komische Salontyrolerthum fehlte, wenn der Städter auch nicht minder breitschulterig und muskulös war als sein Führer, so verriethen ihn doch die goldene Brille und die zwar wettergebräunten, aber ersichtlich an den Glacéhandschuh und an die Führung der Feder gewöhnten Hände und der ganze Schnitt und Ausdruck des jugendlich-kühnen, aber nachdenklichen und von frühreifem Ernst leicht überschatteten Gesichts.

Die Beiden kamen aus der Sottoguda-Schlucht, also selbstverständlich über den Feddajapaß, und – was nicht so selbstverständlich ist – von der Bedretta Marmolada, jenem riesigen vergletscherten Winkelpfeiler, der die Grenze Tyrols und Italiens markirt. Sie waren am Abend zuvor von Campidello im Fassathal bis nach dem sogenannten Feddaja- Hotel gelangt, hatten hier übernachtet und vor Tagesanbruch die Besteigung der Marmolada ausgeführt, die zwar nicht zu den eigentlichen „Großthaten“ auf dem Gebiet der Besteigungen gehört, aber immerhin mühsam und beschwerlich ist und Kraft und Ausdauer, namentlich aber Kniefestigkeit und solide Fußgelenke zur Voraussetzung hat. Alles war nach Wunsch abgelaufen, die herrlichste Aussicht war reicher Lohn für alle Mühe gewesen, und schon war der Abstieg in der Hauptsache erledigt und die Steigeisen hatten abgeschnallt werden können, als Robert Hammer (der einzige Sohn eines reichen Hamburger Exporteurs, aber zu jedem andern Studium geneigter und besser beanlagt, als zu dem des Kurszettels) sich durch seine gehobene Stimmung zu einem Sprung in die Tiefe verleiten ließ, der ihm einen kleinen Vorsprung vor dem Führer verschafft haben würde und an sich völlig ungefährlich war, in den Bergen jedoch zu den Unvorsichtigkeiten gehörte, die eigentlich nur Neulingen passiren und sich regelmäßig, oft sogar empfindlich rächen. Er war wieder alles Erwarten auf einen locker liegenden Stein gesprungen, der rechte Fuß war umgeknickt und zugleich hatte es im Knie einen kurzen, schmerzhaften Riß gegeben, über dessen Bedeutung er sich als erfahrener Bergsteiger keinen Augenblick zu verblenden vermochte. In der That wurde ihm das Auftreten von Minute zu Minute saurer, das rechte Bein versagte mehr und mehr den Dienst und erwies sich zuletzt als so schwach, daß Robert wiederholt plötzlich zusammenknickte, trotz des umsichtig eingestemmten Bergstocks. Eine oberflächliche Untersuchung seitens des erschrockenen, aber auch mit solchen Zwischenfällen hinlänglich vertrauten Führers ergab zwar nur eine „Verknaxung“ des Knies und des Knöchels, also ein paar gedehnte oder angerissene Flechsen, es entstand aber nun die Frage, ob es Robert möglich sein würde, zu Fuße bis nach Rocca, dem nächsten nennenswerthen Orte, zu gelangen, der die Aussicht auf eine mehrtägige gezwungene Rast nicht von vornherein mit dem Fluch unsterblicher Langeweile belud. Robert erklärte sofort, daß er es versuchen würde und der Führer, der ihn schon seit einer Woche begleitete und seine Zähigkeit und Willenskraft kennen und schätzen gelernt hatte, hielt es ebenfalls für ausführbar und fand nur das Eine im Stillen „dickköpfig“, daß Robert sich sogar entschieden weigerte, ihm unter so veränderten Verhältnissen wenigstens den ziemlich schweren, obgleich mit nichts Ueberflüssigem beladenen Rucksack zu überlassen.

Uebrigens erwies sich das Vertrauen Beider zu der Energie und Widerstandsfähigkeit des Verunglückten zwar nicht als trügerisch, doch wurden diese Eigenschaften auf eine harte Probe gestellt und als man sich nach einer Rast, zu der eine Quelle in der schattigen, kühlen Sottoguda-Schlucht eingeladen hatte, wieder erhob, biß sich Robert mit einem unterdrückten Schmerzenslaut in die Unterlippen und hätte der Führer ihn nicht mit dem Arme aufgefangen, so würde er zu Boden gesunken sein. Der vollständig geöffnete Schnürschuh ließ deutlich erkennen, daß der Fuß arg geschwollen war, und ohne die Hülfe des derben Bergstocks wäre Robert wahrscheinlich gezwungen gewesen, sich von dem Führer unterstützen zu lassen, wogegen Stolz und jugendlicher Ehrgeiz sich heftig auflehnten. Jeder Tritt verursachte die empfindlichsten Schmerzen und der Aufmerksamkeit des Führers entging es nicht, daß sich allmälig eine fahle Blässe über das hübsche Gesicht mit dem dichten blonden Schnurrbart breitete. Nicht ohne Sorge überwachte er jeden Schritt des seiner Fürsorge Anvertrauten, den er bereits lieb gewonnen hatte; er zählte die Minuten, die sie noch von dem Dorfe trennten, wo der Verletzte Ruhe und etwas wundärztliche Pflege finden sollte, und stieß mit dem Bergstock sorgsam die Steine weg, die auf dem schlechten Feldweg nur zu dicht lagen. Einige barfüßige Kinder, wie sie in den Dörfern jenseits der Tyroler Grenze immer auf der Lauer liegen, um jeden durchkommenden Fremden nachdrücklich anzubetteln, waren ihnen entgegengelaufen und hatten in gewohnter Weise rechts und links des Wegs niederknien wollen, um mit erhobenen Händen in sklavisch unterwürfiger, aber malerischer Stellung ihr flehentliches: „Un soldo Signor!“ erschallen zu lassen, aber ein Blick in das bleiche, von verbissenem Schmerz verzogene Gesicht Roberts ließ sie davon abstehen und sie schauten ihm mit den weit offenen nachtschwarzen Augen unter dem zerzausten Kraushaar halb verblüfft, halb teilnahmsvoll nach, um ihm dann scheu und neugierig in einiger Entfernung zu folgen.

Es muß dahin gestellt bleiben, ob es Robert gelungen wäre, den Kampf mit Schwäche und Schmerz noch eine Viertelstunde länger fortzusetzen – jedenfalls meinte er in dem Augenblick, wo er auf der grünangestrichenen Bank vor dem „Albergo alla Stella bianca“ (Gasthaus zum weißen Stern-Edelweiß) zusammenbrach, daß er es nicht eine Minute länger ausgehalten haben würde und daß es Menschenkraft überschreite, die paar Schritte von der schattenlosen Bank über die Schwelle und in die Kühle der Hausflur zu thun. Unwillkürlich legte er die Hand vor die Augen – er kam so um einen Anblick, den in seiner vollen Lieblichkeit zu genießen der wackere Alois Micheler, sein Führer, doch nicht der rechte Mann war.

Alois hatte in dem wie ausgestorben daliegenden Hause sofort Lärm geschlagen und die dicke Wirthin hatte sich zwar nicht aus dem Sorgenstuhl erhoben, in dem sie ihr Mittagsschläfchen hielt, aber dafür mit so durchdringender Stimme „Felice!“ gerufen, daß die Gesuchte es hören mußte, in welchem entlegenen Gelaß sie sich auch gerade befinden mochte. In der That klapperten sofort ein Paar zierliche Pantöffelchen über die Steinfliese der Hausflur und ein schlankes Mädchen von fremdartiger, vornehmer Schönheit, deren Gestalt durch die malerische Tracht der Gegend auf’s Vortheilhafteste hervorgehoben ward, erschien auf der Schwelle. Ueberraschung und Schreck ließen sie zurückfahren, reinstes, schönstes Mitgefühl trieb sie zu dem Leidenden hin, und da beide Impulse einander lahm legten, so stand sie wie gebannt und heftete einen forschenden, fragenden Blick auf den Fremden und dann auf den ihr bekannten Führer, an den nun die schlimme Aufgabe herantrat, alle seine italienischen Brocken zusammenzusuchen, um dem Mädchen einen Ueberblick über die Sachlage zu geben und ihr den Verletzten angelegentlich zu empfehlen.

Die tiefe Erschöpfung, welche sich jetzt, wo er nach der verzweifelten Anstrengung des Abstiegs endlich Rast gefunden, Robert’s bemächtigt hatte, raubte ihm die Fähigkeit, dem Gespräch, dessen Gegenstand er war, zu folgen, ließ ihm jedoch die, den Wohllaut der sonoren Altstimme des Mädchens, wenigstens traumhaft, wie eine Liebkosung zu empfinden. Die Hand sank von den Augen und das tiefe Erröthen, welches das fast klassisch regelmäßige und doch ungemein gewinnende, fast rührende Gesicht des Mädchens überfluthete, als ihre Augen den seinen begegneten, gab ihm auch die Sprache wieder, wenngleich das Bewußtsein, selbst zu erröthen, ihn mit einer ungewohnten Befangenheit erfüllte. Er war des Italienischen völlig mächtig und das Mädchen würde ihn ja verstanden haben, auch wenn seine Sprachkenntniß noch mangelhafter gewesen wäre, als die des braven Micheler. Wenige Minuten reichten hin, den Knäuel zu entwirren, den Letzterer in gut gemeintem Eifer zu Stande gebracht hatte; die Wirthin, der die Aussicht auf einen gut zahlenden Gast urplötzlich Beine machte, betheiligte sich mit einem von Robert kaum beachteten Redestrom an der Verhandlung, und dieser hatte Mühe, sich der Dienstbeflissenheit zu erwehren, mit welcher sie ihm bei Ersteigung der Treppe behülflich zu sein suchte. Felice war vorausgeeilt, um das einzige Stübchen, welches in Frage kommen konnte, im Handumdrehen noch etwas wohnlicher zu machen, und hatte dabei auch noch Zeit gefunden, einen Knaben hinüber nach Caprile zu senden und den Arzt zu bestellen. Als Robert die niedrige, aber steile Treppe erklommen hatte, wobei ihm der Schmerz wider seinen Willen ein leises Stöhnen abpreßte, öffnete ihm Felice selbst die Thür des saubern und freundlichen Stübchens, dessen Fenster eine entzückende Aussicht auf die Berge gewährte, und als er auf den Holzstuhl am Bett sank, kniete das Mädchen vor ihm nieder und entfernte, trotz seines Abwehrens, mit geschickter

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Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant). Druck und Verlag J.H.W. Dietz, Hamburg 1887, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Illustrirtes_Unterhaltungsblatt_18_12_1887_Seite_2.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)