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„Ihren Scharfsinn in Ehren, Reinisch, das wird aber spät werden; ich glaube, ich bin gegen alle Russinnen der Welt gefeit und gegen die emanzipirten erst recht.“

Der Maler zuckte die Achseln und sang leise vor sich hin – eine bekannte Volksweise; sollte in der Textstelle „Und a bissele Lieb und a bissele Treu und a bissele Falschheit is allweil dabei“ seine Antwort liegen?

Lindner hatte es ja ehrlich und aufrichtig gemeint; er sah im Geiste das rosige Kindergesichtchen, das dem Töchterchen seiner Wirthin angehörte, und dieses liebe Gesichtchen hatte er sich schon so unendlich oft mit dem fraulichen und mütterlichen Ausdruck vorgestellt, daß er sich allen Anfechtungen gewachsen glaubte und nichts für leichter hielt, als der Kleinen treu zu bleiben.

Das Gespräch war damit beendet und wurde im Café, wo man noch ein halbes Stündchen saß, nicht wieder aufgenommen; da hatte ja irgendwer Uebersetzersünden aufgedeckt und dieses Thema war unzweifelhaft viel wichtiger! Der kleine Kreis zerstreute sich dann nach allen Seiten und auch Born schritt seiner Wohnung zu; wenn man gewußt hätte, daß er gleich darauf in eine Seitenstraße einbog und einen Umweg von einer scharfen halben Stunde machte, um – noch unter den Fenstern vorüberzugehen, an deren einem vielleicht gerade jetzt Tatjana stand! Er wagte es kaum, einen zaghaften Seitenblick emporzuwerfen, der ihn gerade nur darüber belehren konnte, daß einige Flammen der Gaskrone noch brannten, und schritt dann, wie auf einer sittlich-bedenklichen Handlung ertappt, rasch davon. Arglistige Tatjana, warum hattest du von deiner Bewunderung für eine kleine Novelle gesprochen, deren viel umworbene Heldin für eine zum Krüppel geschossenen, kirchenmausarmen Offizier schwärmte und ihn auch heiratete, warum hattest du es so bewunderungswürdig und für dein Gefühl so verständlich gefunden, daß sie den Gebrechlichen und Hülflosen leidenschaftlicher liebte, als sie den Gesunden und Kräftigen je geliebt haben würde? Sie hatte das einen tief in der weiblichen Natur begründeten Zug genannt, und war der Blick, mit dem sie den halbblinden Dichter dabei ansah, nicht feucht gewesen? Born hatte nichts erwidert, aber nun wußte er, daß sie das edelmüthigste, großherzigste Geschöpf unter der Sonne war, und er konnte den Freunden, die so schnöde Reden über sie führten, ernstlich zürnen, wenn er sie auch mehr noch bemitleidete. Wie sich Tatjana auch zeigen mochte – was sie war, das hatte sie doch nur ihn ahnen lassen, und sollte er auf diesen Vorzug nicht stolz sein? Er war recht stolz und glücklich, der gute Born, als er in dichtem Gestöber sich heimtappte.

Acht Tage später – diesmal im Erdgeschoß eines kleinen, zwischen Gärten und dicht am Fluß gelegenen Hinterhauses, der Residenz des Dramendichters. Reinisch hatte sie die „Eisgrotte“ getauft, nicht ohne Berechtigung. Born hatte den ganzen Nachmittag heizen lassen, aber die Eisblumen an den Scheiben waren nicht abgethaut und während in der Nähe des feuerspeienden rothglühenden eisernen Ofens, um den sich alle zusammendrängten, wie die Küchlein um die Glucke, eine fast unerträgliche Glut herrschte, fror man auf der Rückseite und hatte kalte Füße. Arvenberg schimpfte wie ein Rohrsperling; obgleich er den Paletot anbehalten hatte, konnte er sich nicht erwärmen, und er beruhigte sich erst einigermaßen, als ihm Born in seiner Verzweiflung allen Ernstes den Vorschlag machte, sich angekleidet in sein Bett zu legen, und einstweilen ein paar gewaltige Filzschuhe geschleppt brachte, in denen sich Arvenbergs kleine Füße spurlos verloren. Der arme Dichter hatte stets viel zu leiden, wenn man bei ihm zusammenkam; alle seine Betheuerungen, daß die Wohnung im Sommer reizend, hochpoetisch und angenehm kühl sei, wurden mit satanischem Hohngelächter aufgenommen; man war nun einmal entschlossen, kein gutes Haar an derselben zu lassen. Wendt suchte eine besondere Force darin, die zahllosen gehäkelten Decken und Deckchen, die überall paradirten und von denen ein halbes Dutzend allein an das Sopha verschwendet war, als Hindernisse der Bequemlichkeit und bloße Schaustücke zu formlosen Knäueln zusammenzuballen und dabei auf die spartanische Einfachheit seiner „Bude“ hinzuweisen. Arvenberg kritisirte die Vasen auf Schränken, Tischen und Kommoden, deren er halb dreiundzwanzig, halb siebenundzwanzig gezählt haben wollte; Reinisch erging sich in schnöden Bemerkungen über den Bilderschmuck des Zimmers, der allerdings von einem ziemlich primitiven Geschmack zeugte; es war das „gute Zimmer“ der braven Wirthsleute und an der Wand hingen – in goldner Schrift auf ultramarinblauem Grunde – die Tauftafeln sämmtlicher Sprößlinge der Familie zwischen einigen grell-bunten Oeldruckbildern – Prämienblättern zu illustrirten Journalen. Lindner vermißte die Abwesenheit jedes Schmucks aus den drei Reichen der Natur und erklärte, das Zimmer würde sich weit aparter ausnehmen, wenn an der Decke, wie in manchen Droguenhandlungen, ein kleines Krokodil hinge oder auf den Schränken einige interessante Mißgeburten in Spiritus aufgestellt würden; außerdem gehöre an die Wand eine kräftige Abbildung des bethlehemitischen Kindermords oder eines ähnlichen Massacres en gros – die Beschäftigung des Bewohners müsse sich in der ganzen Einrichtung und Ausschmückung der von ihm bewohnten Räume widerspiegeln.

Am Schlusse einer längeren, reichlich mit kraftvollen Verwünschungen gewürzten Rede über die Verwerflichkeit sämmtlicher „Buden“, die Born bisher bewohnt, rief Wendt pathetisch aus:

„Stellen Sie Sich nur einmal vor, bester Born, die Walujeff überrumpelt Sie eines Tags hier! Zuzutrauen ist ihr auch das, sie guckt eines schönen Tags ein paar Minuten lang durch’s Fenster, tippt dann mit dem Sonnenschirm an die Scheibe, wünscht Ihnen einen guten Morgen, macht einen graziösen Knix, legt Ihnen ein Veilchensträußchen aufs Fensterbret und ist im nächsten Moment verschwunden. Welchen Begriff soll sie von dem bekommen, der in einer solchen Philisterbude wohnen mag? soll sie wirklich glauben, daß in solchen Räumen ‚die Flügelschläge des Genius rauschen‘ – damit könnten Sie ihr eher imponiren. Machen Sie doch mindestens einen kleinen Scherz – setzen Sie z. B. der gußeisernen schwarzen Jungfrau, die gesenkten Hauptes auf Ihrem Ofer lagert, und die so melancholisch aussieht, als habe sie einen Bandwurm oder als befinde sie sich im kritischsten Stadium der Seekrankheit, Ihren Hut auf.“

„Also Zigeunerwirthschaft – ja, wenn das Born könnte!“ erwiderte Lindner. „Ihr hättet nur sehen sollen, in welche Verzweiflung er gerieth und wie er rein aus der Haut fahren wollte, als mir mein Vetter in Geestemünde vorigen Winter einen großen Steinbutt schickte! Born war gerade bei mir, als das interessante Seeungeheuer anlangte; mein Antrag, dasselbe als Abendbrot zu verspeisen, fand einstimmige Annahme, als sich aber herausstellte, daß meine Wirthin ausgegangen war und die Küche verschlossen hatte, damit Pietsch nicht hineingerieth, hielt Born das Projekt für gescheitert und geberdete sich gleich einem der verzweifelnden Helden seinen Dramen, als ich ihm nach einer kritischen Musterung der uns zur Verfügung stehenden Kochutensilien meinen neuen Plan entwickelte. Er mußte aber schließlich nachgeben und das Fischlein wurde, nachdem Born beim nächsten Viktualier Senf und Butter geholt hatte und die letztere in einer großen porzellanen Zuckerdose zerlassen und braun gemacht worden war, mit einer großen Papierscheere in etwas unregelmäßige Stücke zerlegt und im – Waschbecken servirt. Es ging auch und hat uns ganz ausgezeichnet geschmeckt, das könnt ihr glauben – nicht war, Born?“

„Ihr seid doch die reinen Barbaren!“ stöhnte Wendt; „sollte man dergleichen im neunzehnten Jahrhundert für möglich halten? Der Mensch ist nicht blos, was er ißt, er ist auch, wie er ißt, und nun überlegt euch einmal, was ihr seid, die ihr mit solchen himmelschreienden Sünden auch noch prahlt!“

„Man sollte es allerdings zur Ehre der Menschheit für unmöglich halten,“ warf Arvenberg ein, „daß dergleichen in civilisirten Ländern noch vorkommt, aber wir wollen doch einmal bei der Russin bleiben. Ich halte es für selbstverständlich, daß jeder gewissenhaft berichtet, der sie getroffen hat – keine Geheimnisse.“

„Wird sich auf die Dauer kaum durchführen lassen!“ spottete Reinisch, „ich möchte aber auch beantragen, daß die etwaigen Beichten gleich zu Anfang abgemacht werden; ich komme heute mit meiner Erzählung zu Ende und werde dann schwerlich aufgelegt sein, über unsere Vereinsaspasia mit euch zu schwatzen. Wer hat denn jetzt die meiste Chance, ihr Perikles zu werden?“

Alles schwieg, worauf denn Lindner, nicht ohne eine gewissen Verlegenheit, meinte:

„Dann bin ich’s am Ende gar! Zu meiner nicht geringen Ueberraschung fand ich, als ich nach unserem letzten Abend heimkam, eine Einladung zum Mittagessen für den nächsten Sonntag vor; die Einladung lautete natürlich nur auf „einen Löffel Suppe“, ich würde aber in ernstliche Bedrängniß gerathen, sollte ich euch berichten, was ich alles gegessen habe – Wendts kochkunst-wissenschaftliche Wißbegierde muß also unbefriedigt bleiben, so sehr mich das auch schmerzt. Es war noch eine hiesige Familie eingeladen, die eines pensionirten Regierungsraths, sehr nette Leute, denen

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Idealisten. , Leipzig 1880, Seite 578. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_49_50.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)