Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Es war ein Spätabend im September, wo es schon merklich früh zu dunkeln beginnt. Ich hatte mir vom Hradschin aus einen glorreichen Sonnenuntergang angesehen, war dann langsam durch die Straßen geschlendert und fand, als ich heim kam, zu meiner Ueberraschung Licht in meinem Zimmer. Curt war verreist gewesen und hatte erst am nächsten Tage zurückkommen wollen, als ich jedoch die Thür öffnete, fand ich ihn am Tische sitzend und ein Blatt aus meiner Skizzenmappe betrachtend, die ich beim Weggehen auf dem Tische hatte liegen lassen. Er war dermaßen in Gedanken versunken und für die Außenwelt abgestorben, daß er mein Eintreten völlig überhörte, und wie ein Blitz schoß es mir durch den Kopf: „Ob er das Bild der schönen Leontine nicht gefunden hat!“ Ein paar Augenblicke stand ich unschlüssig zaudernd an der Thür – dann trat ich auf ihn zu und mein Gruß riß ihn aus seiner Versunkenheit empor. Er legte das Bild ohne Uebereilung wieder in die Mappe, schob diese bei Seite und kam mir mit der alten unbefangenen Herzlichkeit entgegen, die auch für eine volle Stunde sein Erzählen charakterisirte; ich hatte das Gefühl, er werde nach dem Original der Skizze fragen, und ich beobachtete ihn infolge dessen genau, sodaß ich es bemerkt haben würde, wenn sein Geplauder einen geheimen Gedanken maskirt hätte; er machte keinen Moment den Eindruck auf mich, als denke er mehr an die Frage, die er noch an mich zu richten hatte, als an das, was er sagte, und ich wollte schon aufathmen und annehmen, daß das Bild nur irgendwie den ersten Anstoß zu der wachen Träumerei gegeben habe, in der ich ihn fand, ohne Gegenstand derselben zu sein, als er, eine frische Virginia-Cigarre nach echter Raucherart in die Kerzenflamme haltend, bis sie auf Zolleslänge verkohlt war, nachlässig fragte:

„Ja so, wo in aller Welt haben Sie denn das Original des Frauenkopfs aufgegabelt, der in Ihrer Mappe obenauf lag, als ich sie öffnete, um mir die Zeit des Wartens zu kürzen? Das ist ja ein höchst merkwürdiges Profil – das Gesicht scheint ein ganz offenes zu sein und doch Räthsel aufzugeben.“

Ich fragte zurück, warum denn gerade ein Original da sein müsse und ob das Portrait nicht reine Phantasie sein könne, aber Curt lachte nur und sagte in überzeugtem Tone:

„Das reden Sie ein, wem Sie wollen – mir nicht; der individuelle, leidenschaftlich subjektive Zug in dieser Physiognomie kann kaum erfunden, der kann nur wiedergegeben sein.“

In diesem Augenblick sah ich, wie drüben die Fenster hell wurden und die schlanke Gestalt Leontinens sich undeutlich von dem lichten Grunde abhob, und mit einer Art von desperater Energie nahm ich Curt, der mich überrascht ansah, bei der Hand, führte ihn an das Fenster, zeigte hinüber und sagte lakonisch resignirt:

„Da drüben wohnt man, wenn Sie Sich näher orientiren wollen.“

Eine kurze Zeit sah er, das Pincenez vor den Augen, hinüber, dann ließ er dasselbe lässig fallen und trat wieder an den Tisch, und kein Zug in seinem Gesicht verrieth ein näheres Interesse. Mit gutmüthigem Spott sagte er dann, beide Arme auf der hohen Lehne eines alterthümlichen Stuhls, und das Kinn auf die höchste Verzierung stützend:

„Also eine ganz kleine Liaison – und so im Hause – recht bequem! Allerlei telegraphische Signale herüber und hinüber verabredet, also die Kommunikation im vollen Gange – nicht? Und davon erfahre ich kein Sterbenswörtchen, obgleich Sie doch meinen aparten Geschmack in Bezug auf Frauengesichter kennen und sich sagen mußten, daß ich Sie sogar um eine Kopie dieser Skizze bitten würde? Und das wissen Sie doch auch, daß ich der letzte bin, der Ihnen ins Gehege kommt – wozu also diese unerhörte Geheimthuerei?“

Ich war in Verlegenheit, wie er mich so treuherzig und offen ansah und ganz gewiß ohne jeden Hintergedanken, und ich war wenigstens halb offenherzig und räumte ein, daß ich ein sonderbares Interesse für das Mädchen gefaßt und seinen Spott über mich und meine verspätete Schwärmerei gefürchtet hätte, da die sozialen Verhältnisse –

Weiter ließ mich Curt nicht kommen. Er lachte und meinte:

„Nun ja, man macht eben Putz oder man schneidert, aber was verschlägt denn das? Daß Sie ans Heiraten gedacht haben sollten, ist, wie man zur genüge weiß, die wildeste von allen Hypothesen, warum also nicht? Ich dächte, ihr fragtet sonst sehr wenig nach der sozialen Rangstufe, auf der eure Geliebten stehen, und Sie nun gar – ich muß gestehen, je länger ich mir die Sache überlege, desto räthselhafter und unbegreiflicher wird mir Ihr ganzes Verhalten.“

Dagegen ließ sich kaum etwas einwenden, aber Curt war zu edelmüthig, sich lange an meiner Verlegenheit zu weiden; er sagte lachend:

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Idealisten. In: Die Neue Welt, Leipzig 1880, Seite 457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_39_19.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)