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damit herum. Zuweilen wird der Schrecken dieser Vision so groß, daß ich mich mühsam zurückhalten muß, um nicht wie ein Irrsinniger aufzuschreien. Dann wieder malt es sich mir in sanften Farben, und ich denke fast behaglich darüber nach. Losgeworden bin ich diesen Gedanken keine Stunde mehr… Und ich war doch von Haus aus kein Grübler, war gesund, jung, in guten Verhältnissen, nahm das Leben von der leichten Seite – bis zu jenem Augenblicke, wo ich der Behandlung meiner Hiebwunde zusah! Welch’ sonderbare Gewebe da bloßgelegt wurden! Nervenstränge, Muskeln, der graue Knochen. Die jungen Studenten der Medizin pflegen bekanntlich bei der ersten Operation, die sie sehen, in Ohnmacht zu fallen. Ich fiel nicht in Ohnmacht. Ich sah ruhig, aufmerksam zu, wie wenn ich mir hätte etwas Theueres, das ich vielleicht nie wieder erblicken würde, tief ins Gedächtniß prägen wollen. Das ist mir gelungen. Da sitzt es, unvergeßlich, unvertilgbar!… Meine Wunde heilte. Der Arm war eine Zeit lang steif, dann wurde er wieder beweglich; ordentlich gebrauchen werde ich ihn freilich nie können. In der Wundkrankheit wurde ich von Fiebern heimgesucht. Sie verflogen. Nur Einer blieb, der Fiebertraum von meinem eigenen Skelett. Als ich wieder ausging, erkannten mich meine leichtlebigen Freunde nicht mehr. Ich war ein nachdenklicher Mensch geworden.

Sie haben mir soeben vorgeworfen, daß ich Ihnen eine alltägliche Begebenheit erzähle. Ich glaube, es ist wirklich eine solche, aber in einem anderen Sinne. Auch werden die tausend Jahre alten Abgedroschenheiten des Lebens unendlich interessant, sobald sie uns selber widerfahren. Alles war schon da und alles passirt zum ersten Male, weil immer andere begleitende Umstände den Fall

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/174&oldid=- (Version vom 1.8.2018)