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(Frühsommer 1852.)
Geliebte Freundin!

Ich habe mit großem Vergnügen gehört, daß es Ihnen wieder besser geht. H(err) v(on) Lüttichau hat mir die Freude gemacht, mich mit Ihrem riesenhaften Sohn zu besuchen, der dem großen Vater schon über den Kopf gewachsen ist. Warum müssen Sie nur vom Schicksale ausersehen sein, so oft und so schmerzlich zu leiden! Dabei fällt mir ein, daß bei einem Todesfall in der Finkenstein'schen Familie in Gegenwart des einfältigen Carl Burgsdorff[2] ein Durchreisender, um seine Theilnahme zu bezeigen, ausrief: warum ist denn nicht lieber der Herr Charles von Burgsdorff gestorben! welches dieser sehr empfindlich aufnahm und ausrief: „gehorsamer Diener für Ihre gütige Theilnahme: Sie hätten ja ebenfalls abscheiden können, und kein Mensch würde Sie vermißt haben; ich wenigstens nicht“ – setzte er hinzu, und wendete dem Reisenden den Rücken. Er hatte insofern Recht, daß jeder sich selber der Nächste ist. Ich habe H(errn) v(on) Lüttichau ersucht, mir das Exemplar vom Macbeth noch einmal anzuvertrauen, weil ich aus dem Exemplar meine Anmerkungen über das Gedicht abschreiben wollte. H(err) v(on) Lüttichau hat mir Hoffnung gemacht, daß Sie vielleicht in diesem Sommer nach Berlin reisen könnten. Ist denn dazu eine mögliche Aussicht? Von meinem Befinden kann ich nichts Neues melden. Ich stümpere auch nur so hin und führe eigentlich nach dem neuesten Begriff ein constitutionelles Leben: lauter Aenderungen, neue Gesetze und keinen Inhalt. Doch leben die meisten Menschen Zeitlebens so, ohne es sich anders zu wünschen; der Bedarf des Lebens ist bei den Meisten ein nüchterner Traum. Die arme Bardeleben ist ja nun zurück gereist; sie sah sehr leidend und elend aus und hoffentlich wird sie sich im Sommer bessern. Wenn

ich nur erst etwas arbeiten könnte. Wenn ich im Bette liege, habe ich viele Pläne und auch Mut; so wie ich aber aufstehe, ist alles verschwunden; ombre chinoise[3]! Ich komme darauf zurück, daß ich mich glücklich fühle, daß es Ihnen besser ergeht. Der Himmel gebe sein Gedeihen! Von Agnes aus Schlesien habe ich gute Nachrichten; wenn ich mich nur nicht so einsam fühlte! obgleich mich einige Freunde viel besuchen, und ich mit denen auch schwatzen und scherzen kann. Von Jugend auf habe ich es nicht vermocht, viel über mich selbst zu klagen; ich war mir immer in dieser Rücksicht wie eine dritte fremde Person. Ich habe mich sehr gefreut, Ihren Sohn als kecken Ritter und überwachsene Riesengestalt wieder zu sehen. Ich habe mich von je den jüngern Gefährten gerne angeschlossen, ob ich gleich immer das Glück hatte, von alten Herrn und Greisen geliebt zu werden und vertraut


  1. Der undatierte Brief dürfte im Frühsommer 1852 geschrieben sein. Für den Sommer war eine Reise der Frau von Lüttichau nach Berlin in Aussicht genommen. Tieck äußert darin den Wunsch, das Befinden der 1852 krank nach Berlin zurückgekehrten Frau von Bardeleben möchte sich im Sommer bessern.
  2. Der am 2. August 1770 geborene Karl von Burgsdorff, der ältere Sohn Joachim von Burgsdorffs, ist näher nicht bekannt. Sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Wilhelm, Tiecks Schul- und Universitätsfreund, war ein feingebildeter Kunst- und Literaturliebhaber. Sein Gut Ziebingen bei Frankfurt a. d. O. diente dem Dichter und seiner Familie seit Ende 1802 über fünfzehn Jahre als Zufluchtsstätte. Siehe dazu Jahrb. des deutschen Adels I, 1896, 395 f.; Köpke a. a. O. I 299–308; Herm. Hettner, Allgemeine deutsche Biographie III 617.
  3. Ombre chinoise: Tiecks Pläne entschwanden wie die Bilder eines chinesischen Schattenspiels.