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aber als Schaffender eine viel zu starke Individualität, um als Reproduzierender noch genügende Objektivität für andere Individualitäten aufbringen zu können. Damit erledigen sich auch gleich Wagners Vorwürfe gegen Reissigers Auffassung des Menuettsatzes in der achten Beethovenschen Sinfonie, wo bekanntlich Mendelssohn mit Reissiger übereinstimmte, während Wagner in eine „Leere“ zu blicken glaubte; sowie gegen Reissigers Orchesteraufstellung. Das spielt so sehr in das Gebiet der subjektiven Dirigentenauffassungen, in welchem unbedingte letzte Richtersprüche nicht fällbar sind, hinein, daß die Sache auf sich beruhen bleiben kann. Es führen viele Wege nach Rom. Reissiger hatte auch selbst das Orchester schon immer anders gesetzt[1], um den Klang zu probieren, und das tut bis auf den heutigen Tag fast jeder Dirigent nach seinem Ohre.

Als Interpret eigener Werke und als Beethovendirigent glauben wir, daẞ Wagner eine kongeniale Leistung schuf, da er dem faustischen Titanen verwandt war. Im allgemeinen aber wird Reissiger als Dirigent über Wagner gestanden haben, da er wandlungsfähiger in viele Stilarten sich hineinlebte. Er hatte eben keine so ausgesprochen subjektive Eigenart, die, wie bei Wagner, im Wege gewesen wäre. Die Lobpreisungen der Dirigententätigkeit Reissigers beginnen gleich bei seinem Antritt in Dresden (1826) und sind nicht besondere Machenschaften einer Antiwagnerpartei der vierziger Jahre. Schon in Reissigers ersten Jahren, als noch die frische Weber-Tradition in der Erinnerung lebte, wird, wie wir an der betreffenden Stelle wörtlich angeführt haben, hervorgehoben, daß Reissiger seinem Vorgänger getreu in der Auffassung nachkommt[2]. Wagner will ja Reissiger auch das absprechen. Es soll eben immer nur seine Auffassung die einzig mögliche sein.

Zu der Behauptung, daß Reissiger Weber nicht richtig auffasse, fand Wagner Aufmunterung in einer Äußerung der Gattin Webers, worin sie Reissiger gleichzeitig faul nennt. Wir können von ihr rein menschlich verstehen, daß der Nachfolger ihres geliebten Gatten im Amte für sie natürlich nie das bedeuten konnte, was er war, und wäre er noch besser gewesen. Ihr Gemüt ließ nur ein befangenes Urteil zu. Andererseits gehört es zu den Mitteln eines Kämpfers wie Wagner, alle nur irgend zu erlangenden Auskünfte über den Gegner (oder vermeintlichen Gegner) für sich voll auszunutzen.

Wer unserer Darstellung gefolgt ist und auch noch die Schluẞkapitel in Betrachtung zieht, der weiß, daß die Behauptung von Faulheit bei Reissiger einfach Ironie ist. Wir brauchen hier nicht noch einmal von den Schulfleißprämien, von dem ununterbrochen tätigen Geiste auf den Reisen, von der fast fieberhaften Tätigkeit in Dresden (sehr häufige Leitung sowohl der deutschen und der italienischen Oper ganz allein, Kirchendienste, Klavierproben für andere), von seinen sechshundert Kompositionen usw. eingehend zu reden, wir wissen, daß obige Behauptung den Tatsachen einfach ins Gesicht schlägt. Undank ist der Welt Lohn. Zwar fand Reissiger sonst gebührende Anerkennung, aber es sollte ihm wenigstens von dieser einen Seite


  1. A. M. Z. 1844 S. 441.
  2. Vgl. auch das neue lobende Urteil über R.s Weber-Auffassung in der A. M. Z. 1844 S. 281, ferner auch das auf Seite 48 über Weber Geäußerte.