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ein Spaziergang auf den Boulevards gemacht. Nun, Ihnen dieses Leben unter den Boulevards zu beschreiben, ist unmöglich – hier tanzt eine arme Familie auf Stelzen, dort singt ein Blinder mit einem Pudel ein Duett, jetzt kommt ein Pulcinelltheater, Drehorgeln, Katzen, die nach der Musik tanzen, Affenkomödien, abgerichtete Kanarienvögel, Laterna magica, dort geigt ein Armer und singt: Le roi est mort, ein paar Schritte weiter singt ein anderer: Vive le Roi! Hier schreit ein Bilderhändler: Charles dix pour deux Sous! Dort laden cabinets d'aisänce ein, hier ein grand restaurateur, vor den kleinen Theatern suchen einem die commissionairs ebenso gierig Billetts in die Hand zu bringen, als die unzähligen filles de joie ihre Adressen. Mad. Korerga ist auch hier angekommen, hat aber noch nicht viel Anbeter, sie ist bedeutend häßlicher geworden. Auch die erste Sängerin des Münchner italienischen Theaters, Mlle. Schiasetti, ist hier, und ich schmachte manchmal mit diesem liebenswürdigen Bilde. Der berühmte Zucchelli ist auch wieder hier und tritt morgen in Centerentola als Baron auf. Ich freue mich, diesen herrlichen Künstler sehen zu können. Ich sehne mich sehr, etwas von Berlin und vorzüglich von Ihnen zu hören; ich bin jetzt so abgeschnitten von allen meinen Freunden, und es ist gar zu drückend, von denen entfernt zu sein, die man liebt und mit denen man so manche fröhliche Stunde verlebt hat, ein kleines Briefchen wäre doch eine kleine Entschädigung für dieses Entbehren; nicht wahr? Nun, Sie würden mir eine rechte Freude machen, nur foppen Sie mich nicht so sehr über meinen ungeratenen Brief. Wenn ich von hier abreisen werde, weiß ich noch nicht, in keinem Fall vor Mitte Januar, und ich habe wohl große Lust, länger hier zu bleiben, da ich hier – jedoch nur mit der Zeit, denn hier dauert es lange, ehe man bekannt wird – mein Brot recht gut werde verdienen können. Jedoch möchte ich sehen, was mir der Minister antworten wird auf mein Schreiben, das ich im nächsten Monat an ihn erlassen will. Italien will ich durchaus kennen lernen.“

Als Postskriptum fügt der Briefschreiber hinzu: „Den bekannten Bolero, welchen ich mir in Berlin geschrieben habe und den Linchen öfters sang, habe ich mir für den Baß eingerichtet und er gefällt überall, ebenso habe ich zwei französische Romanzen in Musik gesetzt und habe schon einen Verleger gefunden, der beide Stücke stechen läßt. Gestern hat eine neue Oper: „Léocadie“ von Auber wieder entschiedenen sucçès gehabt. Dieser Komponist hat Glück, denn eine einzige Oper, die er geschrieben: „La neige“ hat ihn in so guten Kredit gesetzt, daß er schreiben kann, was er will, das Publikum denkt, es ist gut, und applaudiert beständig. Das war auch der Fall in dieser Oper, die wirklich viel Gutes hat, aber auch das Schlechte, wie z. B. die Ouvertüre und mehrere Stücke, wurden wütend applaudiert.“

Im folgenden Briefe hören wir von Reissiger weiter: „Ich langweile mich schon in dem großen Paris, wenn auch nicht als lebenslustiger Mensch, aber doch als Künstler – kurz, mir ist zumute, wie dem Wanderer, der sich an der freundlich einladenden Quelle hinlänglich gelabt hat und welchem nun die Quelle ziemlich gleichgültig geworden ist. – Das Merkwürdigste in der hiesigen musikalischen Welt ist die große Veränderung der Direktion der Königl. Theater und die Umwälzung, welche diese auf alle musikalischen Dinge gehabt hat. Die Veranlassung ist der neue Minister und Chef des