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Kenntnisse verlangt, während heute das Naturgesetz der Arbeitsteilung, welche ja eigentlich Fortschritt bedeutet, doch dem Extrem der vollständigen Verkümmerung der rein theoretischen Kenntnisse Vorschub leistet. Reissiger war ein tüchtiger Praktiker und daher vorzüglicher Erzieher des Orchesters. „Unter ihm bemächtigte sich der Spielenden ein unbegrenztes Gefühl der Sicherheit und Ruhe.“ Als Dirigent beherrschte er alle Stilarten von der blühenden Melodik der Italiener (Rossini, Verdi), über die rhythmisch graziösen (Auber) und pathetisch erhabenen (Halévy) Franzosen bis zur tiefen deutschen Kunst (Bach, Beethoven). „Die Gabe klaren Verständnisses der Intentionen der verschiedensten Komponisten lassen ihn als einen der ersten Dirigenten erscheinen[1]“ Die Gewissenhaftigkeit der Amtsführung bewies er immer auch bei der Beurteilung eingereichter Opern[2], deren Zahl im Jahre manchmal acht bis zehn betrug.

Genoß er auch als Musiker internationalen Ruf, tiefere Wurzeln hat doch seine örtliche Bedeutung für Dresden geschlagen. Unter seiner obersten Führung wandelte sich Dresden aus einer welschen in eine deutsche Musikstadt, und es ist daher nicht anmaßend, wenn man in der Entwicklung des Dresdner Musiklebens von einer Ära Reissiger spricht.

Vom Menschen Reissiger haben wir das Bild einer harmonischen Persönlichkeit gewonnen. Sein Charakter war der eines heiteren, offenen, allen freundlich gesinnten Menschen. Die Menschenfreundlichkeit beweisen die vielen Briefe, die er armen oder leidenden Künstlern zur Empfehlung an einflußreiche Männer schrieb[3]. Sie sind alle in herzlichem Tone geschrieben. Auch von schneller Hilfsbereitschaft im Amte berichten die Zeitgenossen. Die „Milde mit Kraft gepaart“, wie er selbst von Heinrich Schütz, seinem großen Dresdner Vorgänger, schreibt (vergl. übernächstes Kapitel), hat auch er besessen, außerdem einen befreienden Humor. „Cantores amant humores“ zitiert er selbst einmal, und sein zeitgenössischer Biograph Neumann (1854) erzählt von ihm: „Sein freundliches Gesicht verrät die gute Laune, die in ihm wohnt.“ Äußerlich war er eine würdige, repräsentative Erscheinung.

Mit der Jugend hat er es immer gern gehalten. Bei den Paulinern in Leipzig kehrte er gern ein. Die Melodie des noch heute frischen Studentenliedes: „’s gibt kein schöner Leben, als Studentenleben“ stammt von Reissiger.

Er war als Mensch wie als Künstler gleich hochgeachtet, und ein besonntes Dasein, welches nur in Arbeit sich glücklich und daher beim Nachlassen der Kräfte sich bedrückt fühlte, ist der Gesamteindruck. Die Fürsorge für sein königliches Institut, das ihm am Herzen lag, erlahmte aber nie.

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Es ist dankbar, auch den Nebenmännern der Großen einmal eine Sonderbetrachtung zu widmen. Erstens stellt sich vielfach dabei heraus, daß diese doch nicht nur als Folie für den Glanz der Größeren anzusehen sind, sondern daß auch sie eigene Werte besitzen; andererseits fällt auf die


  1. Treumund Wanderer, Dresden und die Dresdener. 1846.
  2. Vgl. Dresdner Anzeiger, 8. Oktober 1900, „Ein Brief R.s“.
  3. Unveröffentlichte Manuskripte in der Kgl. Bibliothek Berlin, Bibliothek der Musikfreunde Wien und Kgl. Landesbibliothek Dresden.