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     Nun hatte ich vorgestern Nacht einen Traum. Es gibt hier einen abseits gelegenen Hügel, um den die Wünsche meines Freundes Lücke kreisten, – er wollte ihn gern kaufen, um sich darauf ein Häuschen zu bauen. Später hat er sich am Fuße dieses Hügels erhängt.

     Ich träumte, daß ich die oberste Fläche dieses Hügels mit einer sehr hohen Steinmauer umzogen hätte. Innerhalb dieser Mauer u. an derselben hatte ich eine kleine Kapelle errichtet mit einem Eingang von außerhalb der Mauer, und einem anderen Eingang innerhalb der Mauer. An die Kapelle anschließend u. mit der Rückwand an die Innenseite der Mauer angelehnt waren Zellen, d.h. es war nur eine einzige Zelle dort, nämlich für mich selbst, aber daran anschließend waren noch mehrere gedachte Zellen für andere Menschen. –

     Hat mich Gott am Arm gezupft? Ich weiß es nicht. – Ich weiß nur, was ich sehe. Und ich sehe das Elend dieser Leute hier. Im benachbarten Dorf Althagen gibt es am Hafen eine Schänke, es ist eine einfache Bretterbude u. man sagt mir, daß sie von Dreck strotzt. Die Leute nennen sie treffend „Die Giftbude“ – u. diesen Namen hat sich die Schänke dann selbst zugelegt. In der Schänke verkehren von den Einheimischen solche Leute, denen man nicht weit über den Weg trauen mag, – u. dazu gesellen sich gewisse Damen der sogenannten Gesellschaft, die als Sommergäste hier sind, dazu entsprechende Herren. Von dieser üblen Gesellschaft werden unablässig andere verführt, an diesem gemeinen Treiben, das die ganzen Nächte hindurchgeht, teilzunehmen, – schwache Menschen, die im Kern nicht schlecht sind, aber nun ganz schlecht gemacht werden. –

     Man hat das Wort aufgebracht: „Religion ist Opium für's Volk“. – Nun gut! – Machen wir's doch wie jene Schänke die sich auch ganz schamlos mit dem Worte selbst nennt, das ihr der Volksmund als Namen gegeben hat: „Giftbude“. Mag die Religion auch Opium für's Volk sein, so ist doch Opium ein Gift, welches seine gute u. segensreiche Seite hat. Meine Kapelle im Traum mag dann ruhig eine „Giftbude“ sein, wenn sie nur als Gegengift jenes Gift der Giftbude am Hafen unschädlich macht. –

Donnerstag, den 9. Juli 1936.

Heute ist mein 52. Geburtstag. Maria war schon gestern ganz aufgeregt im Gedanken daran, daß sie mir heute mit Geschenken Freude bereiten könnte. Wie ein Kind konnte sie's nicht erwarten u. hätte mir am liebsten gestern schon verraten, was sie mir heute schenken würde. Diese Kindlichkeit an ihr ist etwas ganz Reizendes u. Rührendes, denn darin erkenne ich immer ihre wirklich echte Gotteskindschaft. – Und tatsächlich hat sie mir auch wirklich große Freude gemacht mit einer schönen, grauen Hose, die ich sehr nötig brauchte u. mit einer ebenso schönen, dunkelgrauen Kravatte u. einem nicht weniger schönen blaugrauen Hemd. Und damit das Gemüt nicht zu kurz kam, hatte sie noch das wundervolle Bändchen aus der Insel Bücherei „Das Marienleben“ von Rainer Maria Rilke hinzugelegt. Dieses Büchlein hatte ich im letzten Winter einmal gesehen u. obgleich ich sonst nicht gern Gedichte lese, haben diese doch einen ungemein tiefen Eindruck auf mich gemacht, sodaß ich seither oft den Wunsch gehabt habe, diese Gedichte

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Hans Brass: TBHB 1936-06-28. , 1936, Seite 006. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1936-07-09_001.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)