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in Betracht kommen, aus, so kann man fast auf jede Familie 2 rechnen. Die Guthaben betrugen 17,8 Milliarden Mark; hiervon trifft ein grosser Teil auf die arbeitende Bevölkerung. Ein sehr verständiger Weg ist auch der von dem Hamburger Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ seit 1899 eingeführte, die Einkaufsdividende am Ende des Jahres nicht bar zu verteilen, sondern den Anteil, der auf jedes Mitglied trifft, dessen Notfonds zuzuschreiben; der über 100 M. angesammelte Betrag gilt als täglich kündbare Spareinlage, der unter 100 M. kann in Notfällen, wozu auch Arbeitslosigkeit gehört (10% auch Weihnachten), abgehoben werden. 1909 hatten 15 456 Mitglieder einen Notfonds von 514 178 M., 6642 entnahmen 176 944 M. Kiel, Lübeck u. a. haben das Beispiel bereits nachgeahmt.

Ob man diese Ansätze nicht zu einem Sparzwang mit Sperrung bis zu einer gewissen Summe weiter entwickeln und dadurch eine obligatorische Vorsorge erzielen könnte und sollte, bleibt zu überlegen. Begrenzt in ihrer Wirkung sind sowohl Sparzwang als Arbeitslosenversicherung. Kann die letztere eine etwas längere Fürsorge gewähren, als ersterer, so ist sie umgekehrt erheblich eingeengter, insofern sie, um den Missbrauch hintanzuhalten, die Bezugsberechtigung einschränken muss. Die besondern Schwierigkeiten, welche eine obligatorische Arbeitslosenversicherung bietet, fallen bei dem Sparzwang weg und nichts stünde im Wege, dass die Facharbeiterverbände diese Fürsorge durch Versicherung ergänzten. Allein der Zug der Zeit und die Neigung der politischen Parteien scheinen nur in einer allgemeinen obligatorischen Arbeitslosenversicherung ihre Befriedigung finden zu können. Ein neuester Vorschlag will als Provisorium bis zur Schaffung einer regelrechten Arbeitslosenversicherung eine Unterstützung jener Arbeiterorganisationen, welche ihre Mitglieder gegen Arbeitslosigkeit versichern, und den Sparzwang für die nicht organisierten Arbeiter eingeführt wissen.[1]

Erwünschter als die Arbeitslosenversicherung ist unstreitig die Verhütung und Unterdrückung der Arbeitslosigkeit. So hilflos wir auch noch in dieser Hinsicht dastehen, so ist doch schon mancher Fortschritt erzielt worden. Vor allem sind die schweren akuten Krisen mit ihren verheerenden Wirkungen infolge der strengeren Aktien- und Börsengesetzgebung und zügelnder Einwirkung der Zentralnotenbanken mehr und mehr durch die milder verlaufenden Depressionen abgelöst worden; auch die Kartelle mögen, so manches man auch ihnen zum Vorwurf machen kann, einiges zur grösseren Stetigkeit des Erwerbslebens beitragen. In Gemeinde und Staat wächst das Verständnis für eine rationellere Verteilung der öffentlichen Arbeiten. Durch entsprechende Arbeitsverschiebung können sie nicht nur die Arbeitslosigkeit des Winters abstumpfen, sondern auch die allgemeinen Depressionen mildern, was auch finanziell sich sehr lohnt. In dieser Hinsicht sind noch grosse Fortschritte erzielbar. Nicht minder können die Unternehmer die gänzliche Arbeitslosigkeit verhüten, wenn sie bei schlechter Konjunktur, statt einen Teil der Arbeiter zu entlassen, die Produktion einschränken entweder durch Reduktion der täglichen Arbeitszeit oder durch Ausfallenlassen einzelner Tage oder durch Bildung von Gruppen, welche in regelmässigem Wechsel und zeitweise ausser Arbeit gesetzt werden. Dieser Modus, der in England in der Textil- und Kohlenindustrie allgemein angewandt wird, liegt auch im Interesse der Arbeitgeber, insofern er einen festen Arbeiterstamm schafft. Das neue englische Gesetz sieht, wie schon erwähnt, Vergünstigungen vor, wenn statt Entlassung verkürzte Arbeitszeit eingeführt wird. Eine obligatorische Minimalkündigungsfrist würde viele Poren der Arbeitslosigkeit verstopfen. Ebenso ein gut und durchgreifend organisierter Arbeitsnachweis. Arbeiterkolonien, Wanderarbeitsstätten, Notstandsarbeiten vermögen einen Teil der Arbeitslosigkeit aufzusaugen. Ländliche Arbeitsbeschaffung für städtische Arbeitslose in der Nähe einer Grossstadt durch Inkulturnahme von Oedländereien nach dem in Reppen von dem Verein für soziale innere Kolonisation Deutschlands seit 1. Januar 1912 durchgeführten Modus ist, wie die Erfahrung zeigt, gleichfalls nützlich. Gute Berufsausbildung, Verhinderung der Verwahrlosung der Jugend mindern den Zuwachs der Arbeitslosen. Schliesslich sind die ganze Organisation einer Volkswirtschaft – Kleinbesitz in der Landwirtschaft erzeugt z. B. weniger Arbeitslosigkeit, als Grossbesitz –, die Tüchtigkeit eines Volks und die Art, wie es seine Stellung im internationalen Erwerbsleben behauptet, von Einfluss.




  1. K. Kampmann, Die Reichsarbeitslosenversicherung. Tübingen 1913.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/75&oldid=- (Version vom 12.11.2021)