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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Auge gefasst werden kann, um Produktionsmöglichkeiten und Kolonisationskosten zu veranschlagen, ohne in Willkür zu verfallen. Auch die den Erfahrungen anderer Staaten entnommenen Ziffern sind als Grundlage für eine abstrakte Beurteilung nicht verwertbar. Ohne Statistik lässt sich behaupten, dass der Kreis der zu deportierenden Personen nicht schlechthin durch strafrechtliche Merkmale (z. B. Verbrechensart, Rückfallsziffer u. dergl.) bestimmt werden kann. Vielmehr spielt hier auch die körperliche Tüchtigkeit zur Kolonistenarbeit eine Rolle, denn Leute, deren Gesundheit durch Alkohol, geschlechtliche Ausschweifungen, Vagabundenleben zerrüttet ist, oder die sich wegen sonstiger körperlicher Gebrechen nicht zu landwirtschaftlicher Arbeit eignen, würden die Erreichung der Kolonisationszwecke nur hindern. Solche Gründe werden besonders bei den weiblichen Angehörigen des gewerbs- und gewohnheitsmässigen Verbrechertums die Auswahl sehr beschränken; diese werden noch mehr als die männlichen Verbrecher vorwiegend der städtischen Bevölkerung angehören und sich noch seltener wie die männlichen Verbrecher zur landwirtschaftlichen Arbeit eignen. Immerhin wird die Frauenarbeit auch in der Strafkolonie nicht ganz zu entbehren sein und sind weibliche Verbrecher nicht von der D. schlechthin auszuschliessen. Mit der Frauenfrage hängt weiter die Frage der Fortpflanzung zusammen. Verbrecher und Verbrecherinnen liefern nur einen moralisch und physisch schlechten Nachwuchs. Auch von der D. liederlicher Dirnen, zu der man früher gegriffen hat, ist in dieser Hinsicht nichts Gutes zu erwarten. Dadurch, dass die häusliche Gemeinschaft erst nach der Entlassung aus der Strafe eintritt, wird an dem Wert des Nachwuchses gar nichts geändert. Will man aber die Fortpflanzung durch Entmannung ganz unterdrücken, um nicht ein neues Verbrechergeschlecht heranwachsen zu lassen, so nimmt man den Deportierten ein gutes Teil von Interesse an der Arbeit und von Strebsamkeit; man wird damit die wirtschaftlichen Erfolge der Verbrecherkolonie nur schädigen. Besondere Schwierigkeiten erwachsen, sobald einzelne Verurteilte den zeitlich begrenzten Teil der Strafe verbüsst haben. Es würde dem Zweck der D. widersprechen, die Deportierten wieder in die Heimat zu entlassen. Lässt man sie, was wirtschaftlich das Beste wäre, auf der Stelle sitzen, welche sie als Sträflinge bearbeitet haben, so ergeben sich bald Reibereien zwischen den Sträflingen und den entlassenen Kolonisten; ausserdem muss die Strafkolonie wegen Verbrauchs des Platzes allmählich weiter rücken, und, wenn sie auf einer Insel gegründet ist, auf eine andere Insel übertragen werden. Will man aber die entlassenen Kolonisten nicht an ihrem bisherigen Platze dauernd ansiedeln, sondern z. B. nach einer anderen Insel verbringen, so beraubt man sie der Früchte ihrer bisherigen Tätigkeit, indem man sie nötigt, an einem andern Platze von vorne anzufangen, eine Aussicht, die in der Strafkolonie nur entmutigend wirken und den Erfolg der Kolonisation nur ungünstig beeinflussen kann.

Nötigen nicht die fortdauernden Klagen der Gewerbetreibenden über die Konkurrenz der Gefängnisarbeit dazu, dieser Arbeit wenigstens einen Teil der Arbeiter durch die D. zu entziehen? Gibt man solchen Klagen deshalb nach, weil sie insoferne begründet sind, als die Gefängnisarbeit billig und schlecht ist, so wird diese immer mehr und mehr auf eine wenig produktive und unerfreuliche, darum nicht erzieherische Tätigkeit wie Matten- und Korbflechterei, Säcke flicken u. dergl. eingeschränkt; die Gefangenen lernen nichts, womit sie sich nach der Entlassung ehrlich fortbringen können und der Staat trägt dadurch selbst zur Vermehrung der Rückfälle bei. Aber daraus folgt nicht die Notwendigkeit der D., sondern negativ, dass jene Klagen nicht unbeschränkt berechtigt sind. Niemand hat ein Recht darauf, dass der andere nichts arbeitet oder darauf, dass der Staat sein wichtigstes Strafmittel durch unproduktive Arbeit entwerte. Positiv aber folgt aus den Klagen, dass der Staat möglichst Urproduktion betreiben muss. Gelegenheit dazu gibt das Bedürfnis nach Urbarmachung von bisher nicht angebauten Landstrecken (Moor- und Heideland). Die hierfür aufgewendeten Kosten kommen dauernd dem Inlande zugute, während die für die D. zu machenden Aufwendungen wegen der mit der D. verbundenen Missstände und wegen der beschränkten Gelegenheit nach verhältnismässig kurzer Zeit preisgegeben werden müssen. Überwachungskosten von gleicher Höhe werden im Inlande eine bessere Überwachung ermöglichen, weil die Besoldung niedriger sein kann und die Transportkosten wegfallen, für die gleiche Summe also eine grössere Zahl von Wächtern angestellt werden kann. Die Überwachung wird aber auch erfolgreicher sein, weil die Festnahme von Flüchtlingen im Inlande leichter ist, denn der Flüchtige muss streben,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/276&oldid=- (Version vom 14.9.2022)