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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Kultur die Untersuchung und Darstellung geschlechtlicher Probleme gar nicht untersagen. Das gilt nicht nur für Wort und Schrift, sondern ebenso für die bildende Kunst. Hier kann z. B. die Wiedergabe des nackten menschlichen Körpers nicht verboten werden, ohne der Kunst unerträgliche Beschränkungen aufzuerlegen. Dass der Anblick eines nackten menschlichen Körpers in Natur oder in einem Kunstwerke die geschlechtliche Sinnlichkeit erregen kann, ist zweifellos. Ebenso zweifellos aber ist, dass das keineswegs auch nur regelmässig der Fall sein müsste. Hier gibt die Individualität des Betrachters den Ausschlag. Aber weil in einzelnen Menschen der Anblick jedes halbwegs geeigneten Gegenstandes unzüchtige Empfindungen auslöst, kann man die Mehrzahl der reinlich Denkenden nicht wertvoller Kulturgüter berauben und der Wissenschaft und Kunst Fesseln anlegen. Es wird deshalb unzüchtig eine Darstellung im wahren Sinne des Wortes nur genannt werden dürfen, wenn sie dazu bestimmt ist die geschlechtliche Sinnlichkeit zu erregen. Ein wirkliches Kunstwerk ist darum ebensowenig jemals unzüchtig wie ein Werk der Wissenschaft. Selbstverständlich werden im einzelnen Falle Zweifel über die Unzüchtigkeit einer bestimmten Darbietung möglich sein. Aber je weniger engherzig die Behörden darüber urteilen, um so wirksamer werden sie die wirkliche Pornographie bekämpfen können.

Den Sittlichkeitsdelikten gegenüber ist es nun Aufgabe der Polizei, zunächst die Begehung dieser Handlungen zu verhindern, so weit das möglich ist. Gerade gegenüber unzüchtigen Darbietungen ist das besonders wichtig – ihre schädliche Wirkung kann durch nachträgliche Bestrafung nicht wieder aufgehoben werden. Die Mittel der Prävention sind natürlich verschieden je nach der Art der Darbietungen. Zunächst kommen dabei in Betracht die Aufführungen in Theatern, Tingeltangeln, Kinematographen usw. Hier gewähren die allgemeinen Vorschriften der Gewerbeordnung eine ziemlich weitgehende Möglichkeit der Überwachung von Unternehmern und Unternehmungen. Ausserdem aber kann die Polizei auf Grund ihrer allgemeinen Befugnis eine Zensur ausüben und alle Vorführungen untersagen, die durch ihre Beschaffenheit, namentlich auch durch Verletzung des geschlechtlichen Anstandes, die öffentliche Ordnung stören. Tatsächlich wird von diesem Recht auch regelmässig Gebrauch gemacht; in welchem Umfange, das ist freilich dem Taktgefühl der einzelnen Behörden überlassen. Wünschenswert wären besondere Bestimmungen für Kinematographen, deren zunehmende Verbreitung keineswegs ausschliesslich erfreulich ist. Wenn diese Anstalten auch bei guter Leitung sogar ein wertvolles Bildungsmittel abgeben können, so legt doch die Möglichkeit, allerlei aufregende Vorgänge plastisch vorzuführen, die Versuchung zum Missbrauch sehr nahe. Das ist umso bedenklicher, als ein grosser Teil der Besucher aus unerwachsenen Personen besteht. Dass deren Entwicklung nicht bloss durch unzüchtige, sondern auch durch allerlei abenteuerliche Vorführungen leicht unerwünscht beeinflusst werden kann, ist klar. Es gilt hier dasselbe wie bei der sog. Schundliteratur, deren Gefahren auch durchaus nicht in der Erregung der geschlechtlichen Phantasie allein zu finden sind. Bei den Kinematographen wäre es wohl erwägenswert, ob nicht ihr Besuch Unerwachsenen überhaupt zu untersagen, oder wenigstens auf Vorstellungen zu beschränken wäre, deren Programm alle „sensationellen“ Nummern ausschliesst. In diesem Sinne sind in der neusten Zeit in einzelnen Bundesstaaten Gesetze und Verordnungen erlassen. Gründliche Abhilfe kann nur ein Reichsgesetz schaffen.

Gegenüber unzüchtigen Presserzeugnissen steht der Polizei das Recht der vorläufigen Beschlagnahme auf Grund § 23 des Pressgesetzes zu. Die sachgemässe Ausführung wird erleichtert durch das internationale Abkommen zur Bekämpfung der Verbreitung unzüchtiger Veröffentlichungen vom 4. Mai 1910 (s. R. G. B. 1911 S. 209 ff.). Die beteiligten Regierungen (einstweilen Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Belgien, Brasilien, Dänemark, Spanien, Vereinigte Staaten von Amerika, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Russland und Schweiz) verpflichten sich darin, je eine Behörde einzurichten oder zu bezeichnen, der es obliegt, alle Nachrichten zu sammeln und mitzuteilen, welche die Ermittelung und Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen erleichtern, die Einführung solcher Gegenstände verhindern und deren Beschlagnahme sichern oder beschleunigen können, auch die Gesetze mitzuteilen, die mit Beziehung auf den Gegenstand des Abkommens erlassen sind oder noch erlassen werden. Diesen Behörden ist das Recht des unmittelbaren Verkehrs eingeräumt und ausserdem, soweit das nach den einzelnen Landesgesetzen zulässig ist, die Pflicht zur Mitteilung von Strafnachrichten über erfolgte Verurteilungen auferlegt.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/195&oldid=- (Version vom 2.12.2021)