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zur Folge gehabt hätte. Nur die, anfangs unbedeutenden, Stempelabgaben und die Matrikularbeiträge – letztere soweit sie aus direkten Steuern der Einzelstaaten flossen und tatsächlich entrichtet wurden – konnten als Einkommens- und Besitzsteuern gelten. Allein diese machten bis 1900, von ganz wenigen Ausnahmefällen abgesehen, nie mehr als ein Zehntel der Zölle und Verbrauchssteuern aus. Solange es irgend ging, suchte man im Deutschen Reiche den rasch und stark anwachsenden Bedarf durch Erhöhung und ergiebigere Ausgestaltung der alten grossen Verbrauchssteuern zu befriedigen, neben denen nur die Verkehrssteuern seit 1881 wiederholte Steigerungen erfuhren. Auch die seit 1900 beginnende finanzielle Kalamität des Reiches wurde vorwiegend durch Erhöhung der alten Steuern und Einführung neuer Verbrauchsabgaben zu beseitigen versucht. Die Finanzreform von 1909 erhoffte aus der Erhöhung der Bier-, Branntwein-, Schaumwein-, Tabak- und Zigarettensteuer sowie aus der neuen Leuchtmittel- und Zündholzsteuer und aus der Erhöhung des Tee- und Kaffeezolles bezw. aus der Beibehaltung der vollen Zuckersteuer und der Fahrkartensteuer rund 365 Mill. Mk. zur Deckung des Mehrbedarfes von 500 Mill. Mk. Aber das Reich konnte doch nicht umhin, auch die Besitz- und Einkommensteuern für Reichszwecke in Anspruch zu nehmen. Es war dies schon 1906 geschehen durch Einführung der Reichserbschaftssteuer, wodurch den Bundesstaaten nur mehr ein Drittel des in ihren Grenzen aufgekommenen Rohertrages (und das Recht zur Einführung von Deszendentensteuern und zur Normierung höherer Steuersätze) belassen wurde und es geschah dies noch mehr bei der Finanzreform von 1909 durch Erhöhung verschiedener Stempelsteuern, durch Einführung einer Grundstücks-Umsatzsteuer, einer Talon-, einer Schecksteuer, durch Verkürzung des Anteils der Einzelstaaten an der Reichserbschaftssteuer auf ein Viertel und durch Erhöhung der Matrikularbeiträge auf das Doppelte; es geschah dies im Jahre 1911 durch Einführung der Reichszuwachssteuer, von der allerdings ein erheblicher Teil den Gemeinden und Einzelstaaten verbleibt, und vollends durch Reichssteuergesetzgebung vom 3. Juli 1913, welche den Wehrbeitrag und die Besitzsteuer brachte (s. 39. Abschnitt). Der Zustand im Deutschen Reiche war nach dem Etat von 1911 so, dass von den gesamten Einnahmen des Reiches aus Steuern und Matrikularbeiträgen mit 1531 Mill. Mark 1214 Mill. Mk. aus Verbrauch und Aufwand, 317 Mill. aus Einkommen und Besitz fliessen. Während früher nur ein Zehntel des Reichssteuerbedarfs aus den beiden letzten Quellen floss, ist es 1911 ein Fünftel.

Immerhin ist das Verhältnis der Verbrauchssteuern und Zölle zu den Besitz- und Einkommensteuern in Deutschland, Reich und Einzelstaaten zusammen genommen, günstiger als in Frankreich und in England. Schon i. J. 1911, also noch vor der jüngsten Gesetzgebung, entfielen nach den Angaben im Statistischen Jahrbuch des deutschen Reichs 1911 S. 369 bei uns auf Zölle und Verbrauchssteuern etwa 1500 Mill., auf Verkehrs- und direkte Steuern rund 1140 Mill. Mk., was ein Verhältnis von 53 zu 47 ergäbe. Dabei ist aber zu beachten, dass in Deutschland das kommunale Steuerwesen, das bereits über ein Drittel aller Steuern ausmacht, fast ganz auf den besitzenden und leistungsfähigeren Klassen der Bevölkerung liegt, während in England, trotz der direkten Form der Kommunalbesteuerung, die minderbemittelten Klassen in viel höherem Masse zu den kommunalen Lasten herangezogen werden, und in Frankreich, den andern romanischen Staaten und Österreich das Oktroi noch in starkem Masse in Anspruch genommen wird.

II.

Die geschichtliche Übersicht über das Steuerwesen seit 1800 bis zur Gegenwart hat gezeigt, dass dieses reich ist an Bewegungen und Gährungen, an Veränderungen und Neubildungen. Kein Staat ist von ihnen verschont geblieben und in manchen Staaten ist kaum ein Jahrzehnt ohne grössere oder kleinere Reformen verlaufen. Bezeichnend für diesen Entwicklungsprozess ist die allmähliche Verschiebung der durch die Reformen angestrebten Ziele. Zwar die Veranlassung ist in den weitaus meisten Fällen die gleiche: es ist regelmässig der Zwang, der von den gesteigerten Bedürfnissen des Staates oder der anderen öffentlichen Körper ausgeht und auf Erhöhung der Steuereinnahmen drängt. Aber je länger je mehr treten bei der Durchführung der Reformen auch andere Rücksichtnahmen in Konkurrenz mit den rein fiskalischen. Waren es zu Anfang des vorigen Jahrhunderts politische Erwägungen, die in vielen deutschen Staaten, in Österreich, später noch in Italien zur

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/144&oldid=- (Version vom 12.9.2021)