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. . . . das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter, unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu sein.“[1] Die Staaten sind nach Hegel nur Werkzeuge des Weltgeistes, die unbewusst ihre Aufgabe, den Weltgeist auf eine höhere Stufe der Entwicklung zu heben, erfüllen. Die höchste Entwicklungsstufe wird zu Zeiten von einzelnen Völkern erreicht, die aber, wenn ihre Zeit vorüber ist, ihre Rolle in der Weltgeschichte ausgespielt haben. Diese Theorie von der Sittlichkeit und zwar von der aus der Vernunft abgeleiteten Sittlichkeit ist nichts anderes als der in modernes, philosophisches Gewand gekleidete Aristotelische Gedanke, dass der Mensch nur im Staate möglich sei.

Gibt bei Hegel die Vernunft den Masstab dafür, was als sittlich anzusehen sei, so nimmt eine andere Richtung derselben Zwecktheorie die Religion als Basis für die Beurteilung des Sittlichen. Der Begriff des Sittlichen muss dann natürlich jeder beliebigen Religion entlehnt werden können. Dass die katholische Kirche im Mittelalter die Staaten dazu zwang, ihre religiösen Forderungen in die Tat umzusetzen, liegt im System des Katholizismus, wie er von Augustinus an ausgebildet wurde, begründet. Aber auch der Protestantismus hat vereinzelt Versuche in dieser Richtung unternommen. Der namhafteste theoretische Vertreter des protestantischen Gedankens ist Julius Stahl. Er stützt sich auf die Worte der heiligen Schrift als nicht anzuzweifelnde Wahrheiten und versuchte von dieser Basis aus die göttliche Institution des Staates zu beweisen. Die ganze legitime Ordnung des Staates hat nach Stahl ihre bindende Macht daher, dass das Ansehen des Staates auf Verordnung Gottes beruhe. „Von sich selbst,“ sagt er,[2] „kann kein Mensch obrigkeitliche Gewalt über andere Menschen haben, auch nicht die Sämtlichen über den Einzelnen. Noch auch können die Menschen durch Vertrag obrigkeitliche Gewalt gründen, da sie über ihr Leben und über ihre Freiheit nicht verfügen, daher nicht jemandem Gewalt einräumen können. Das ist das göttliche Recht der Obrigkeit.“ Von dieser Grundanschauung aus ist auch verständlich, wie der Verfasser dem Staate folgende Aufgaben stellen kann:[3] „Es ruht aber auch der Beruf des Staates auf dem Dienste Gottes. Es ist Gottes Gebot, für das Gemeinleben – Gerechtigkeit, Zucht, Sitte – das er handhaben, es ist Gottes Herrschaft, die er aufrichten soll. Die Obrigkeit ist nach dem Ausspruche der h. Schrift (Röm. 13) nicht bloss von Gott verordnet, sondern sie ist auch Gottes Dienerin (θεοũ διάκονος, dei minister) . . . . . Die Obrigkeit ist darum von Gott nicht bloss in dem allgemeinen Sinne, wie alle Rechte von Gott sind, sondern in ganz spezifischem Sinne, dass es das Werk Gottes ist, das sie versieht. Sie übt ihr Recht nicht bloss nach Gottes Ordnung, wie auch der Eigentümer, der Vater, sondern sie übt es für Gottes Ordnung. Es ist nicht ein blosses eigenes Recht, ein eigener Besitz, sondern eine göttliche Mission. Die Gewalt über Leben und Freiheit der Menschen und zu dem Zwecke, eine höhere sittliche Ordnung herzustellen, kann nie das bloss eigene Recht eines Menschen über den andern sein, gleichwie das Recht eines Ehegatten über den andern, des Vaters über die Kinder, sondern nur ein im Amte Gottes geübtes Recht . . . . . Es ist aber danach auch der Zweck des Staates nicht bloss eine Erfüllung sittlicher Ordnungen, sondern auch im Dienst und Gehorsam gegen die Person Gottes und die Aufrichtung eines Reiches zur Ehre Gottes, und also sollen Obrigkeit und Volk ihn betrachten.“[4]

In dieser Vermengung von Geistlichem und Weltlichem liegt dieselbe Forderung, die im Mittelalter von der katholischen Kirche an den Staat gestellt wurde, nämlich dass er ein christlicher Staat sein solle; Verwirklichung der christlichen Lehren soll sein Zweck sein. Darin liegt keine wissenschaftliche Forschung, nicht einmal eine wissenschaftliche Überzeugung, sondern nichts weiter als ein Glaubensbekenntnis, das jeglichen Beweises unfähig ist.


  1. Ebenda § 258.
  2. Die Philosophie des Rechts. (1856) II. 2. S. 176.
  3. Ebenda, S. 179 f.
  4. Vergl. ferner von Stahl: Der christliche Staat, (2. Aufl. 1858) z. B. S. 29: „Dies ist das Wesen des christlichen Staates. Er ist die Ordnung des öffentlichen Zustandes, wie ein christliches Volk sie als Anforderung erkennt und wie sie aus dem Geiste eines christlichen Volkes hervorgeht ...... Das Christentum ist ihm Norm und Grundlage und ist ihm Zweck.“
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/76&oldid=- (Version vom 9.7.2021)