Diverse: Handbuch der Politik – Band 1 | |
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ebensowenig beseitigen wie die Sprache oder die Schrift, denn gleich diesen ist er eine Voraussetzung unseres gegenwärtigen Daseins.
Deshalb ist auch die Begründung verfehlt, mit welcher der ideologische Anarchismus Godwins, Stirners, Proudhons und Tolstojs dem Staate die Daseinsberechtigung versagt. Der Staat muss mit allen seinen Mängeln bestehen bleiben, weil sich nichts Besseres an seine Stelle setzen lässt. –
Der Anarchismus, die Lehre, dass der Staat keine Daseinsberechtigung habe, ist eine kühne und grossartige Lehre, aber er ist eine Irrlehre. Wer seinen Grundgedanken und dessen Verzweigungen, seine bedeutendsten Vertreter und den Kreis seiner Anhänger kennen gelernt hat, muss ihm mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Vom Standpunkt des Staatsmannes muss man sein Dasein bedauern. Denn er hat grossherzige und warmfühlende Naturen verleitet, sich gewaltsam und sinnlos dem Staate entgegenzustellen und einem Wahngebilde andere Menschen und schliesslich sich selbst zum Opfer zu bringen. Vom Standpunkt des Forschers dagegen muss man an ihm den Anregungswert schätzen, der kraftvollen Irrtümern innezuwohnen pflegt, welche uns nötigen, uns über die Gründe des scheinbar Selbstverständlichen klar zu werden. Die Bedeutung des Anarchismus liegt im letzten Grunde darin, dass er unsere Überzeugung von der Notwendigkeit des Staates befestigt und vertieft hat.
Anmerkung WS: Text ist nicht gemeinfrei, Franz W. Jerusalem starb 1970.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/201&oldid=- (Version vom 25.7.2021)