Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 531.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Ein König bestand darauf, seine Tochter solle nicht heiraten, und ließ ihr in einem Wald in der größten Einsamkeit ein Haus bauen; darin mußte sie mit ihren Jungfrauen wohnen und bekam gar keinen andern Menschen zu sehen. Nah an dem Waldhaus aber war eine Quelle mit wunderbaren Eigenschaften, davon trank die Prinzessin; und die Folge war, daß sie zwei Prinzen gebar, die darnach Johannes Wassersprung und Caspar Wassersprung genannt wurden, und wovon einer dem andern vollkommen ähnlich war. Ihr Großvater, der alte König, ließ sie die Jägerei lernen, und sie wuchsen heran, wurden groß und schön. Da kam die Zeit, wo sie in die Welt ziehen mußten; jeder von ihnen erhielt einen silbernen Stern, ein Pferd und einen Hund mit auf die Fahrt. Sie kamen zuerst in einen Wald und sahen zugleich zwei Hasen und wollten darnach schießen; die Hasen aber baten um Gnade und sagten, sie könnten ihnen nützlich sein und in jeder Gefahr Hilfe leisten. Die zwei Brüder ließen sich bewegen und nahmen sie als Diener mit. Nicht lang, so kamen zwei Bären; wie sie auf die zielten, riefen die gleichfalls um Gnade und versprachen treu zu dienen; also ward auch damit das Gefolge vermehrt. Nun kamen sie auf einen Scheideweg, da sprachen sie: ‘Wir müssen uns trennen, und der eine soll rechts, der andere links weiter ziehen’. Aber jeder steckte ein Messer in einen Baum am Scheideweg, an deren Rost wollten sie erkennen, wie es dem anderen ergehe und ob er noch lebe. Dann nahmen sie Abschied, küßten einander und ritten fort. – Johannes Wassersprung kam in eine Stadt, da war alles still und traurig, weil die Prinzessin einem Drachen sollte geopfert werden, der das ganze Land verwüstete und anders nicht konnte besänftigt werden. Es war bekannt gemacht, wer sein Leben daran wagen wolle und den Drachen töte, der solle die Prinzessin zur Gemahlin haben; niemand aber hatte sich gefunden. Auch hatte man das Untier hintergehen wollen und die Kammerjungfer der Prinzessin hinausgeschickt, aber die hatte es gleich erkannt and nicht gewollt. Johannes Wassersprung dachte: ‘Du mußt dein Glück auf die Probe stellen, vielleicht gelingt dirs’ und machte sich mit seiner Begleitung auf gegen das Drachennest. Der Kampf war gewaltig; der Drache spie Feuer und Flammen und zündete das Gras ringsherum an, so daß Johannes Wassersprung gewiß erstickt wäre, wenn nicht Has, Hund und Bär das Feuer ausgetreten und gedämpft hätten. Endlich mußte der Drache aber unterliegen, und Johannes Wassersprung hieb ihm seine sieben Köpfe herunter, dann schnitt er die Zungen heraus und steckte sie zu sich. Nun aber war er so müd, daß er sich auf der Stelle niederlegte und einschlief. Während er da schlief, kam der Kutscher der Prinzessin; und als er den Mann da liegen sah und die sieben Drachenköpfe daneben, dachte er: ‘Das mußt du dir zu nutz machen’, stach den

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_531.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)