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Untersuchung ‘L’os qui chante’ (Bulletin de folklore 1, 39–51. 89–152. 2, 219–241. 3, 35–49. 1891–1898) bemerkt, in zwei Gruppen. In der einen wird die wunderbare Flöte, die wider den Mörder Zeugnis ablegt, aus einem Knochen[1] des Erschlagenen gemacht, in der andern aus einer seinem Grabe entsprossenen Pflanze,[2] in der die Seele des Toten fortlebt,[3] um bisweilen sogar ihre leibliche Gestalt wieder zu gewinnen. Statt der Flöte erscheinen auch andre Instrumente, Harfe, Dudelsack, Fiedel. Der Ermordete ist entweder ein Jüngling, den seine Brüder beneiden, oder eine Jungfrau, deren Bräutigam von der Schwester begehrt wird, oder ein kleines Mädchen, dem der Bruder eine Blume entreißen oder eine Belohnung vorwegnehmen will. Die Mordtat geschieht meist im Walde, in der skandinavischen Ballade, die nach England wie nach Deutschland und Estland gedrungen ist, am Seestrande.[4]


29. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. 1856 S. 56.

1819 nr. 29; aus Zwehrn bei Kassel.

Zwei andere Fassungen standen in der ersten Auflage von 1812, nämlich nr. 75 ‘Vogel Phönix’ (aus den Maingegenden, von der Marie im Wildschen Hause zu Kassel, 10. Februar 1812) und


  1. Andre Erzählungen von einem redenden Knochen handeln nicht von einer Mordsühne, so eine estnische bei Kreutzwald 2, 155 = Schiefner, Orient und Occident 2, 175 und eine indische bei Steel-Temple p. 127 ‘The little anklebone’. Auch das rumänische Märchen von den birkenen Dudelsäcken bei Obert nr. 28 ‘Die Adlerstochter’ (Ausland 1857, 1075) gehört nicht hierher. – Im bretonischen Märchen ‘Le brin éternel’ (Revue 23, 404) verrät ein Stück Fleisch vom ermordeten Mädchen, das ein Bettler im Walde gefunden hat und kocht, den Mord.
  2. Einige berberische Geschichten (Basset, Contes berbères 1, 114 nr. 57. Rivière nr. 4. Socin-Stumme, Der Dialekt der Houwâra 1894 S. 53) mischen das Motiv des Brotes ein, das sich in der Hand des Mörders in das Haupt des Erschlagenen verwandelt (R. Köhler 1, 154). In dem rumänischen Märchen bei Obert nr. 28 (Ausland 1857, 1075) werden Adlertochter und Prinzessin nicht getötet, sondern in Birken verwandelt; die aus den Birken gemachten Sackpfeifen erzählen ihre Geschichte.
  3. Über dies Fortleben vgl. Hartland, The legend of Perseus 1, 192 (1894). Macculloch p. 110.
  4. Auch W. Bugiel (Wisła 1893; vermehrt in seinen ‘Studya i szkice literackie’, Posen 1911 S. 194–400) hat, an eine polnische Dichtung von Julius Słowacki anknüpfend, unser Märchen ausführlich besprochen.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_276.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)