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ein alter weißer Mann, gab den Rat, der oberste Richter solle einen schönen roten Apfel in die Hand nehmen, in die andere einen rheinischen Gulden, solle das Kind zu sich rufen und beide Hände gleich gegen dasselbe ausstrecken; nehme es den Apfel, so solle es ledig erkannt werden, nehme es aber den Gulden, so solle man es töten. Dem wird gefolgt; das Kind aber ergreift den Apfel lachend, wird also aller Strafe ledig erkannt.


Aus Wickrams Rollwagenbüchlein 1555 nr. 74 (Werke 3, 97 ed. Bolte) in den Berliner Abendblättern von H. v. Kleist 1810, nr. 39 S. 148 abgedruckt; vgl. Hamann, Die literar. Vorlagen 1906 S. 25. Über die Verbreitung vgl. Bolte zu Wickram 3, 383f. 8, 346. Die Wahl zwischen Apfel und Gulden als Probe der Zurechnungsfähigkeit erscheint schon bei Hyperides ed. Blaß 1881 fr. 201 und Aelian, Varia historia 5, 16.

II.

Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet, das haben seine Kinder gesehen. Als sie nun nachmittags miteinander spielen wollen, hat das eine Kind zum andern gesagt; ‘Du sollst das Schweinchen und ich der Metzger sein’, hat darauf ein bloß Messer genommen und es seinem Brüderchen in den Hals gestoßen.

Die Mutter, welche oben in der Stube saß und ihr jüngstes Kindlein in einem Zuber badete, hörte das Schreien ihres andern Kindleins, lief alsbald hinunter, und als sie sah, was vorgegangen, zog sie das Messer dem Kind aus dem Hals und stieß es im Zorn dem andern Kind, welches der Metzger gewesen, ins Herz. Darauf lief sie alsbald nach der Stube und wollte sehen, was ihr Kind in dem Badezuber mache; aber es war unterdessen in dem Bad ertrunken. Deswegen dann die Frau so voller Angst ward, daß sie in Verzweiflung geriet, sich von ihrem Gesinde nicht wollte trösten lassen, sondern sich selbst erhängte.

Der Mann kam vom Felde, und als er dies alles gesehen, hat er sich so betrübt, daß er kurz darauf gestorben ist.


Aus Martin Zeilers Miscellanea, Nürnberg 1661 S. 388, der sie aus Joh. Wolfs Lectiones memorabiles (Lauingen 1600) genommen. Es wird hinzugesetzt, der Papst, der zur Zeit dieser Geschichte gelebt und ein fertiger Poet gewesen, habe versucht, sie in ein Distichon zu bringen, es aber nicht vermocht. Da habe er einen stattlichen Preis darauf gesetzt, den ein armer Student verdienen wollen; dieser habe sich auch lange umsonst gequält, bis er endlich unmutig die Feder weggeworfen und ausgerufen: ‘Kann ichs nicht, so mags der

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Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_203.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)