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bei Chalatianz S. 42 nr. 4: ‘Nachapets Tochter’, die vom Vormunde und später vom Feldherrn ihres Gatten verleumdet wird, offenbart verkleidet ihre Geschichte. Ebenso in Marokko bei Stumme, M. der Schluh nr. 3 ‘Das Mädchen, das mit den Gazellen lebt’. – In einer ägyptischen Erzählung bei Artin-Pascha nr. 4 wird die Prinzessin Tag-el-agem gewahr, wie ihr Lehrer eine Schülerin totschlägt,[1] leugnet dies aber, so oft er sie später danach fragt; sie klagt indes ihr Leid dem Kästchen der Bitternis und dem Aloebecher,[2] wobei ihr Gatte sie belauscht, und erhält vom Lehrer ihre Kinder zurück. – Aus Algier bei Desparmet 1, 342 ‘La femme qui se sauva de chez un ghoul’. Wie im schwedischen Märchen vom Graumantel belauscht die Heldin den Dämon, welcher Eselfleisch kocht, und wird von ihm, weil sie beständig leugnet, etwas von seinem Tun gesehen zu haben, in ein fernes Land getragen und überall, wo sie Aufnahme findet, verfolgt. Die Kaufleute, die ihr Barmherzigkeit erweisen, finden morgens ihre Waren vernichtet; der Königssohn, der sie heiratet, sperrt sie in den Hühnerstall, weil er glaubt, sie habe ihre beiden Kinder nachts gefressen. Da klagt sie einer hölzernen Schüssel und einem Dolche ihr Leid; der Ghul erscheint, bringt ihre Kinder zurück und verkündet das Ende ihrer Nöte, und der Gatte, welcher die Szene belauscht hat, nimmt sie voller Freude auf. Auch in einem südarabischen Märchen der Mehri ‘Weibergeduld’ (A. Jahn 1902 S. 62 nr. 11) hält die Verfolgte ein Gespräch mit Tasse, Kern und Messer.

Die ältere Form, nach welcher der eigene Vater (wie in der Geschichte vom Mädchen ohne Hände, unten nr. 31) die Tochter zur Ehe begehrt, ist erhalten in zwei isländischen Märchen von Ingibjörg und von Björn Bragðastakkur (Árnason 2, 375 und 407 = Powell-Magnusson 2, 366 = Poestion nr. 19 = Rittershaus S. 133


  1. Vgl. Gonzenbach nr. 11 ‚Der böse Schulmeister und die wandernde Königstochter‘ und Zs. f. Volkskunde 6, 62.
  2. Ähnlich klagt bei Artin-Pascha nr. 3 die tscherkessische Prinzeß dem Kästchen der Geduld, dem des Schmerzes und dem blutigen Säbel. Vgl. Kúnos S. 215 nr. 28 (Geduldstein und Messer); Basile 2, 8 (Pappe, Messer, Bimstein); Gonzenbach nr. 11 (Messer und Geduldstein); Hahn nr. 12 (Mordmesser, Wetzstein der Geduld, nicht schmelzende Kerze); Ludwig Salvator, Mallorca S. 78 ‘Das Schloß der Rosen’ (Myrtenzweig, Messer, steinernes Herz). – Diese Klage an den Stein erinnert an die Ofenbeichte (unten nr. 89. 127) und die Unterhaltung mit dem Flachs (Bladé, Gascogne 2, 126).
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_019.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)