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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3

ist auch der Fall bei vielen Damen, die heute geachtet und geehrt die Salons beleben. Der erste Geliebte, Borgewski hat der Tarnowska mit seinem Blute eine ganz außerordentliche Liebesprobe gegeben, ihre anderen Liebesabenteurer aber haben nichts Außerordentliches an sich. Die Tarnowska ist keine vollkommen Irrsinnige, sondern sie ist in hohem Grade mit partieller moralischer Anästhesie behaftet. Bei dem pathologischen Zustand Prilukows und der Tarnowska, bei ihrer Jagd nach Zerstreuungen mußte der Plan zum Verbrechen von selbst entstehen, ohne daß irgend jemand bewußt die Initiative dazu ergriffen hat. Hysterie und Verbrechertum hängen eng zusammen, und diese Ansicht der positiven italienischen Schule wird auch von den Geschworenen in Rußland geachtet. Die Tarnowska hat eine Gemütskrankheit, die ihr Bewußtsein und ihre Willensfreiheit einschränkt. Deshalb muß § 47 des italienischen Strafgesetzbuchs (beschränkte Verantwortlichkeit) angewandt werden. – Dr. Coceon vom Hospital in Venedig: Er habe die Überzeugung, daß Komarowski gerettet werden konnte. Er habe noch nie gehört, daß ein Magen bei geöffnetem Unterleib ausgepumpt worden sei. – Professor Dr. Giordano bemerkte noch: Die Krankenwärter haben, als sie in augenblicklicher Abwesenheit des Arztes die Gedärme wieder einfüllten, wahrscheinlich mehr Kraft als erforderlich war, angewendet. – Es folgten die Plaidoyers. Es nahm zunächst das Wort der Vertreter der Nebenkläger, Rechtsanwalt Dr. Feder: Die Angeklagten haben durchaus die charakteristischen Linien, mit denen sich das Strafgesetzbuch beschäftigt. Die Psychologen haben ihr Gutachten auf phantastische Erzählungen und schlecht begriffene Tatsachen gegründet. Diese Psychologie eignet sich für das Laboratorium, aber nicht für das Schwurgericht. Zur Entlastung der Tarnowska ist sogar ihr Negativismus herangezogen worden; nach dieser Methode müßten alle Angeklagten, die leugnen, als am Negativismus erkrankte betrachtet werden. Man hat

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/72&oldid=- (Version vom 5.1.2023)