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andern Prozeß, bei dem auch die homosexuelle Frage eine Rolle spielte, dem Prozeß des unglücklichen englischen Dichters Oskar Wilde. Als der Richter Gill ihn fragte: „Von was für einer Liebe reden Sie denn eigentlich?“, antwortete Wilde: „Von einer edlen, herrlichen Form der Zuneigung, die in diesem Jahrhundert nicht ihren Namen nennen darf, von der Liebe, wie sie zwischen David und Jonathan bestand, wie sie Platon zur Grundlage seiner Philosophie machte, und wie wir sie in den Sonetten Michelangelos und Shakespeares finden, von jener Liebe, welche in unserm Jahrhundert so verkannt wird, daß ich ihretwegen jetzt da bin, wo ich mich heute sehe“. Der feminine Einschlag bei homosexuellen Männern ist, allgemein gesprochen, meist dadurch gekennzeichnet, daß eine größere Empfindsamkeit und Empfänglichkeit vorhanden ist, ferner ein Vorherrschen des Gefühlslebens, ein stark künstlerischer Sinn, besonders auch in musikalischer Hinsicht, vielfach auch ein Hang zum Mystizismus sowie allerlei weibliche Neigungen und Gewohnheiten in gutem und weniger gutem Sinne. Diese Mischung macht jedoch den Homosexuellen als solchen nicht minderwertig, er ist den Heterosexuellen zwar nicht gleichartig, aber doch gleichwertig. Inwieweit der feminine Einschlag bei dem Herrn Grafen Kuno von Moltke vorhanden ist, kann ich heute nicht mit Bestimmtheit beurteilen. Dazu kenne ich ihn zu wenig, es bedürfte hierzu einer viel längeren Beobachtung. An schwerwiegenden Anhaltspunkten fehlt es jedenfalls in dem Komplex der hier geschilderten Charaktereigenschaften nicht. Ich fasse daher mein Gutachten dahin zusammen: Der objektive Beweis des vom Herrn Beklagten behaupteten normwidrigen Empfindens und Verhaltens und einer von der Norm abweichenden Männerfreundschaft erscheint mir ohne Zweifel erbracht, wider die Norm ist aber nicht wider die Natur. Ich bin auf Grund meiner Beobachtungen, die sich auf über 5000 Homosexuelle erstrecken, zu der Überzeugung gelangt, daß die Homosexualität, die heute