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die Homosexualität im alten Griechenland und im alten Rom hatte, ist allbekannt. Wie die Geschichte berichtet, galt im alten Griechenland zur klassischen Zeit die Knabenliebe, allerdings die reine und edle, als ein Vorzug vor den Barbaren. Trotz aller Verfolgungen, gesellschaftlicher Ächtungen und Bestrafungen ist es in keinem Lande gelungen, diese Leidenschaft aus der Welt zu schaffen, ja es gewinnt fast den Anschein, als ob mit dem Fortschritt der Kultur die Homosexualität, und zwar sowohl die weibliche als auch die männliche, immer mehr an Ausdehnung gewinnt. Man kann das beklagen, der Chronist ist jedenfalls verpflichtet, nicht wie Vogel Strauß den Kopf in den Sand zu stecken oder gar die mit dieser Leidenschaft behafteten Leute zu beschimpfen, sondern mit der Homosexualität als mit einer vorhandenen Tatsache zu rechnen. Nach einer vor einigen Jahren vom „Wissenschaftlich-humanitären Komitee“ ganz oberflächlich mittelst Fragebogen angestellten Erhebung, die sich meines Wissens nach nur auf die Studierenden an deutschen Universitäten und technischen Hochschulen und auf die Metallarbeiter beschränkte, soll es in Deutschland weit über 1½ Millionen männliche Homosexuelle geben. In Berlin wurde schon vor mehreren Jahren die Zahl der männlichen Homosexuellen auf weit über 50000 geschätzt. Und zwar ist diese Veranlagung in allen Ständen und bei allen geschlechtsreifen Altersklassen zu finden. Damit soll keineswegs behauptet werden, daß alle diese Leute sich in roher-sinnlicher Weise betätigen; die weitaus große Mehrheit dieser Homosexuellen soll nur seelisch wider die Norm empfinden. Ein Arzt, der über jeden Verdacht er- haben ist, homosexuell veranlagt zu sein, sagte mir vor einiger Zeit: er behaupte, unter zehn männlichen Personen ist mindestens einer homosexuell. Der bekannte Nervenarzt Dr. Magnus Hirschfeld erzählte mir bei Gelegenheit eines anderen Prozesses, zu dem er als Sachverständiger geladen war: Eine große Anzahl Väter und Mütter aus den besten Gesellschaftskreisen