Seite:Friedlaender-Interessante Kriminal-Prozesse-Band 1 (1910).djvu/46

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 1

gewinnen zu können. Einst hielt man für Wahrheit, daß die Erde stille stehe – und sie bewegt sich doch! Im Interesse der angeblichen Wahrheit hat man Luther verfolgt und Huß verbrannt, und der Molochdienst der Wahrheit fordert auch in unseren Tagen noch immer Opfer. Eins dieser bedauernswerten Opfer ist die Zeugin Wienkowski, die mit ihrem Säugling ins Untersuchungsgefängniß wandern mußte. Ich muß es nach meiner juristischen Ansicht, die ja vielleicht von anderen Juristen bestritten werden mag, hier offen aussprechen: Nach meiner Überzeugung war die Vereidigung dieser Zeugin bei dem Untersuchungsrichter ungesetzlich und unzulässig, denn nach § 65 Abs. 3 der Strafprozeßordnung soll in dem Vorverfahren eine Vereidigung nur stattfinden, wenn die Vereidigung als Mittel zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage erforderlich erscheint. Der Untersuchungsrichter hielt ja aber die Aussage der Zeugin, die sie vor ihm abgegeben, für wahr und deshalb war die Vereidigung durch den Untersuchungsrichter unzulässig. Und nun ist diese schwache, konfuse Frau zu ihrem Unglück auch hier in der Hauptverhandlung vorher vereidigt worden, und daher stammen für sie die traurigen Folgen.

Meine Herren, dieser Prozeß wäre längst zu Ende, wenn nicht die Staatsanwaltschaft die Anklage wie eine verlorene Festung mit Todesverachtung verteidigt hätte. Jeder Tag brachte neue Wunden, und die schlimmste Wunde war für die Anklage, als wir hier nach dreitägigem Warten die Aussage des Cwell aus Warschau entgegennahmen. Da brach das morsche Gebäude zusammen, die Anklage löste sich in Atome auf. Es ist nichts übrig geblieben, daran kann auch die gestrige Würdigung der Zeugenaussagen durch den zweiten Herrn Staatsanwalt nichts ändern. Der zweite Herr Staatsanwalt hat im wesentlichen nur die Anklageschrift vorgetragen, die er selbst verfaßt hat, und seine Ausführungen hin und wieder gewürzt durch ein Wörtlein, das die Schriftsprache

Empfohlene Zitierweise:
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 1. Hermann Barsdorf, Berlin 1910, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_1_(1910).djvu/46&oldid=- (Version vom 14.10.2016)