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gebraucht, glaubt damit allen Anforderungen der Psychoanalyse Genüge getan und seine Darstellung auf ein höheres psychologisches Niveau gehoben zu haben. In Wirklichkeit wird das Kunstwort Minderwertigkeitskomplex in der Psychoanalyse kaum verwendet. Es bedeutet uns nichts Einfaches, geschweige denn etwas Elementares. Es auf die Selbstwahrnehmung etwaiger Organverkümmerungen zurückzuführen, wie die Schule der sogenannten Individualpsychologen zu tun beliebt, erscheint uns ein kurzsichtiger Irrtum.[WS 1] Das Gefühl der Minderwertigkeit hat starke erotische Wurzeln. Das Kind fühlt sich minderwertig, wenn es merkt, daß es nicht geliebt wird, und ebenso der Erwachsene. Das einzige Organ, das wirklich als minderwertig betrachtet wird, ist der verkümmerte Penis, die Klitoris des Mädchens. Aber der Hauptanteil des Minderwertigkeitsgefühls stammt aus der Beziehung des Ichs zu seinem Überich, ist ebenso wie das Schuldgefühl ein Ausdruck der Spannung zwischen beiden. Minderwertigkeitsgefühl und Schuldgefühl sind überhaupt schwer auseinander zu halten. Vielleicht täte man gut daran, im ersteren die erotische Ergänzung zum moralischen Minderwertigkeitsgefühl zu sehen. Wir haben dieser Frage der begrifflichen Abgrenzung in der Psychoanalyse wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Gerade weil der Minderwertigkeitskomplex so populär geworden ist, gestatte ich mir, Sie hier mit einer kleinen Abschweifung zu unterhalten. Eine historische Persönlichkeit unserer Zeit, die noch lebt, aber gegenwärtig in den Hintergrund gerückt ist, hat

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Damit grenzt sich Freud von der von Alfred Adler (Wikisource) begründeten Individualpsychologie (Wikipedia-Artikel) ab.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Neue_Folge_der_Vorlesungen_zur_Einfuehrung_in_die_Psychoanalyse_1933.pdf/92&oldid=- (Version vom 21.5.2018)