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In dem kalten Winter von Anno 29 kamen über die gefrornen Flüsse viele Wölfe, der Himmel weiß woher, in Gegenden, wo man dieses Raubthier bisher nur aus der Naturgeschichte kannte. Da sagte man sich denn auch einmal in dem Marktflecken, wo Herr Dreihaar wohnt, ein Wolf sei in der Nachbarschaft gesehen worden. Wer ein ordentlicher Jäger ist, der weiß, daß eine solche Kunde, worüber andere Leute erschrecken, dem Weidmann die größte Freude macht. So war es denn auch bei Herrn Dreihaar. Kaum hörte er das Gerücht, so nahm er seine Büchse, und suchte, trotz der bittersten Kälte, vom frühen Morgen bis spät Abends seine ganze Revier ab. Leider war all sein Mühen vergeblich; ein schneidender Nordwind wehte den ganzen Tag über und machte das Auffinden einer Fährte unmöglich, und so wendete denn endlich der Förster, verdrießlich und halberfroren, eine Stunde nach Betläuten seine Schritte dem Marktflecken zu. Herr Pathe, stellen Sie sich den Förster vor, wie er heimwärts geht. Seine Halsbinde hat er bis an die Nase aufgezogen; die Hände mit Fausthandschuhen bedeckt, stecken unter der Joppe, die Büchse, von der er das Zündhütchen abgenommen, hängt über die linke Achsel und so wadet er im tiefen mehligen Schnee mühsam daher. Der Mond scheint hell und klar auf die funkelnde Winterlandschaft. Da rennt auf einmal, denken Sie sich des Försters Ueberraschung, aus einem Hohlwege ein ungeheurer Wolf mit weitgeöffnetem Rachen, den buschigen 2 Ellen langen Schweif auf dem Schnee nachschleifend, geradenwegs auf den Förster zu. Was sollte der thun? Handschuh ausziehen, mit erstarrten Fingern eine Zündkapsel suchen, aufsetzen, schießen, das war unmöglich. Schneller als ich es Ihnen erzählen kann, war des Försters Entschluß gefaßt und ausgeführt. Rechts von ihm stand ein alter, dicker Weidenbaum mit knorriger weitüberhängender Krone und hohlem Stamm: den erkletterte er mit der Geschwindigkeit eines Eichhörnchens, und sah, von oben in Sicherheit, auf seinen gefährlichen Bekannten herab, der seinen Appetit nach des Försters Fleisch durch einige erfolglose Sprünge den Baum hinauf, an den Tag legte. Aber kaum saß der Förster und wollte daran gehen , seine Büchse in Stand zu setzen, so krachte es unter ihm, sein Sitz senkte sich einwärts, und er hatte kaum noch Zeit, seine Beine einzuziehen, und mit den Händen einige Zweige zu packen, um nicht herab zu purzeln, als die morsche Kronenrinde brach. Rasch sank er in die Tiefe des hohlen Stammes hinab; das Gewehr blieb an den Weidenästen hängen. Da stand er nun in seinem engen Schilderhaus, in dem er kaum die Arme bewegen konnte, und nur eine zweizolldicke Rinde trennte ihn von dem blutdürstigen Wolfe, dessen Keuchen und Kratzen er deutlich hörte. Plötzlich sprang, von den Krallen des Wolfes losgerissen, ein Stückchen Rinde, und durch das Loch streckte sich die heiße Wolfschnauze herein. Ein tüchtiger Faustschlag veranlaßte den Wolf, sie zurückzuziehen , und als sich die Bestie drehte, um wo möglich einen andern weniger gefährlichen Eingang zu suchen, fuhr die Hand des Försters blitzschnell durch das Loch, packte den Schweif des Wolfes, und zog ihn, so weit es ging, durch das Loch herein. Hier begann nun der Förster den Schweif zu drehen, wie man eine Kassemühle dreht, und daß diese Operation dem Schweifeigenthümer keineswegs angenehm war, konnte der Förster an dessen fürchterlichem Heulen und Winseln wohl abnehmen. Ich will ihnen die Position der beiden einmal aufzeichnen, muß aber freilich die vordere Hälfte des Weidenbaumes weglassen, sonst können Sie nicht sehen, wie es Herr Dreihaar machte.

Nachdem er so lange gedreht hat, als es seine Kräfte erlaubten, ließ er endlich den mehrmals gebrochenen Schweif fahren und wie ein Pfeil vom Bogen schoß der Wolf davon. Der Förster wartete eine Viertelstunde, schob sich dann in die Höhe, richtete auf dem Baumrande sitzend, seine Büchse schußfertig, was ihm jetzt nicht schwer wurde, da er sich warm gearbeitet hatte , und sprang dann vom Baume herab. Vorn Wolfe war keine Spur mehr zu sehen, und so ging denn Herr Dreihaar nach Hause, innig vergnügt darüber, durch seine Geistesgegenwart eine große Gefahr abgewendet zu haben.

„Donner und Dorla!“ ruft Herr Pathe Zobelmeyer, „das heiße ich besonnen! Dem Weidenbaum hatte er sein Leben zu danken.

Empfohlene Zitierweise:
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 2). Braun & Schneider, München 1846, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_2.djvu/145&oldid=- (Version vom 26.10.2021)