Seite:Ficker Vom Reichsfürstenstande 043.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

zu geben, wäre es undankbar und kleinlich, ihr Werk nicht blos ergänzen und berichtigen, sondern bemäkeln zu wollen, weil sie, den Blick auf das grosse Ganze gerichtet, nicht jeden einzelnen Faden gehörig im Auge behalten konnten: so ist gewiss auch nicht zu läugnen, dass vielfach nur erst sehr ungenaue Umrisse vorhanden sind, dass noch auf lange hin zu thuen ist, bis sich uns die vielgegliederte Fügung und Entwicklung der Reichsverfassung so bestimmt darstellen wird, wie sie überhaupt nach den vorhandenen Quellen noch erkennbar sein dürfte.

Ein Theil unserer Verfassungsgeschichte, welcher bei seinem engsten Zusammenhange mit allen einigenden und auseinanderhaltenden Richtungen im deutschen Staatsleben für die Einsicht in den Gesammtverlauf von besonderer Wichtigkeit sein muss, und doch eingehender Prüfung noch sehr bedarf, scheint mir insbesondere die Lehre vom Reichsfürstenstande zu sein. Wer zu den Reichsfürsten gezählt wurde, welcher Vorrechte sich dieselben erfreuten, welche Pflichten sie zu erfüllen hatten, auf welche Voraussetzungen sich ihr Vorrang stützte, welche zeitliche und örtliche Unterschiede sich dabei geltend machten: diese und manche sich daran knüpfende scheinen mir Fragen, welche trotz ihrer Wichtigkeit aus den bisherigen Bearbeitungen unserer Verfassungsgeschichte nicht mit genügender Sicherheit zu beantworten sind.

Dass die Zeiten der noch bestehenden Reichsverfassung nicht geeignet waren für eine unbefangene Prüfung solcher Fragen, liegt auf der Hand. Ihre Erörterung musste allerdings doppelt nahe liegen, so lange die Stätigkeit der Entwicklung der Reichsverfassung noch ununterbrochen fortdauerte, ihre Geschichte zugleich die Beweismittel für das Recht in sich schloss, welches der einzelne Stand im Reiche beanspruchte, eine Reihe der wichtigsten Streitfragen nur auf sie gestützt entschieden werden konnten; und die Reichspublizisten haben sich denn auch genugsam mit ihnen beschäftigt. Aber gerade das juristische Interesse, welches sich an sie knüpfte, musste einer unbefangenen Würdigung der ältern geschichtlichen Verhältnisse fast unübersteigliche Hindernisse in den Weg legen. Je weniger die Gestaltung der spätern Reichsverfassung im allgemeinen wie im einzelnen den ältern Rechtsgrundlagen entsprach, je mehr diese vergessen oder verschoben und damit auch die begründetsten Einzelrechte in Vergessenheit gerathen waren, die unbegründetsten sich zweifelloser Anerkennung erfreuten, während doch noch immer der grösste Werth darauf gelegt wurde, das thatsächlich geübte Recht zugleich als althergebrachtes nachzuweisen, es an die Verfassung der ältesten Zeit anzuknüpfen: um so mehr mussten auch die zunächst von juristischen Gesichtspunkten ausgehenden Erörterungen solcher Fragen die geschichtliche Erkenntniss häufiger irre leiten, als fördern. Dem Rechtsanwalt waren eben jene Schwierigkeiten, welche den Forscher abschrecken, willkommen; die Haltpunkte, welche er für seine Deduktion gebrauchte und welche sich ihm in dieser Zeit,

in diesem Lande, in dieser Beziehung nicht darboten, wusste er anderswo

Empfohlene Zitierweise:
Julius von Ficker: Vom Reichsfürstenstande. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Buchhandlung, 1861, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ficker_Vom_Reichsf%C3%BCrstenstande_043.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)