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sollen wir nicht aqua destillata und saccharum album verschreiben, wenn die Einbildung des Kranken aus Zuckerwasser ein Lebenselixir macht?

Wolfgang: Kranke betrügen ist ein frommer Betrug; denn der Kranke mißt alle Dinge mit falschem Maß. Aber selbst das hat seine Grenzen. (Indem er sich mit beiden Armen auf die Lehne von Scharff’s Sessel stützt und sich nach vorn neigt.) Ich könnte dir erzählen von einem jungen Arzte, der über alle Maßen wetterte und tobte, als jemand die „Kopfrose“ von einem alten Weibe „besprechen“ ließ und darüber die rechtzeitige Hülfe des Arztes versäumte.

Scharff: Sehr richtig von dem Mann – das war ich, he?

Wolfgang: Ich glaube.

Scharff: Ja, das war sehr richtig von mir! Denn hier bedeutete der Wahn die größte Gefahr für Leben und Gesundheit.

Wolfgang (lebhaft): Und der religiöse Wahn bedeutete das nie? Soll ich dich an die Millionen erinnern, die in unverstandenen, eingelernten Floskeln Heil und Genesung suchen und den Arzt verschmähen, der durch verdauliche Nahrung, durch frische Luft, durch den bitteren Trank der Wahrheit ihren Organismus erneuern will? Trost! Stärkung! Hoffnung! Als ob das alles nur beim Wahne wäre! Wir wollen der Menschheit zeigen, daß nirgends größerer Trost und größere Hoffnung ist als gerade bei der Wahrheit.

Scharff: Wahrheit, Wahrheit! „Was ist Wahrheit?“ fragte Pilatus den Nazarener.

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Otto Ernst: Die größte Sünde. Conrad Kloss, Hamburg 1895, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ernst_Die_groesste_Suende.djvu/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)