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Ich will nicht gerade behaupten, daß Gustav Rasch Recht habe, wenn er betheuerte, aller Kaffee in Tyrol bestehe aus Feigenmehl, Thonbohnen und einem geringen Zusatz von Mokkabohnen, aber ich trug kein Verlangen nach der Probe darauf, wie man ihn in Don zubereitet, sondern lohnte den Führer ab und wir marschierten frohen Muthes abwärts nach der herrlichen Schlucht, die sich nach dem heiligen Romedius, einem Einsiedler bayerischer Abstammung, nennt, der hier seine Tage beschlossen haben soll. Es ist das lange her, denn der Heilige hat sich, der Sage nach, einen Bären, der ihm sein Pferd zerrissen hatte, gezähmt und ihn gezwungen, ihm als Reitthier zu dienen. Auf dem Wege nach der Schlucht stießen wir übrigens im schmalen Bachthal auf Hindernisse, die es uns ganz unmöglich gemacht haben würden, San Romedio in der Nacht zu erreichen. Die schweren Regengüsse der Vorwoche hatten an einer Stelle ein großes Stück des schmalen Pfades einfach in den Wildbach geschwemmt und ihn an einer anderen in der Breite mehrerer Häuser vermauert, d.h. eine mächtige Schlaglawine, die das durchnäßte Erdreich des rechtsseitigen Hanges über den Felsuntergrund hinabschob, hatte sich über den Weg in's Bachbett ergossen. Es gelang uns indes, beide Hindernisse zu überklettern, ohne daß wir nöthig gehabt hätten, unseren ersten Gedanken auszuführen, d. h. Schuhe und Strümpfe auszuziehen und den ziemlich reißenden Bergbach bis zu der Stelle zu durchwaten, wo der Pfad wieder begann. Wir sanken zwar bis an die Knöchel in den Schlamm, der noch keine feste Kruste gebildet hatte, aber höher stieg der braune Brei nicht, und Bergschuhe machen sich nicht viel aus einem Bad im Bach und daraus, nach demselben mit einem Bündel Gras abgerieben zu werden.

Wie außerordentlich wenig Menschen den Weg von San Romedio nach Don zurücklegen, geht wohl daraus hervor, daß man weder in San Zeno noch in Cles etwas von der Wegzerstörung wußte; auch in Don war sie unbekannt gewesen und doch war sie schon eine Woche alt.

In dem einsamen schmalen Bachthale hatten wir überall lieblich duftende Alpenveilchen gefunden und ein ziemlich reges Vogelleben beobachtet. Die eigentliche Schlucht ist so enge, daß man, von der entgegengesetzten Seite kommend, den Eingang in dieselbe leicht übersehen kann; in derselben springt, plötzlich und unerwartet in dieser Einsamkeit, auf einer hohen, steilen Felsecke, am Zusammenflusse zweier Bäche, die Einsiedelei in die Augen. Links am Eingang befindet sich ein Wirthshaus, rechts das Gebäude des Priorats, das schon seine 600 Jahre alt ist. Durch den Hof zwischen beiden Baulichkeiten, die einträchtig bei einander stehen, steigt man aus einer Kapelle in die andere zum Allerheiligsten empor. Wie schon aus dem Vorhandensein des Wirthshauses hervorgeht, wallfahrten zur Sommerszeit viele Andächtige hierher. Hat man die Einsiedelei hinter sich, so wird die Schlucht so enge, daß die steilen, triefenden Wände fast auf einander zu fallen scheinen; tritt man heraus, so klappert eine Mühle und jenseits derselben kochen die Trauben im Sonnenbrand. Bald ist dann San Zeno erreicht, in die berühmte gothische Kirche des Ortes traten wir auf einen Augenblick ein und betrachteten uns eine Marmorurne mit der Asche dreier Heiligen, die hier im Jahre 397 von den Heiden erschlagen worden sein sollen. Die schöne Straße munteren Schrittes verfolgend, gewahrten wir bald die prächtige Brücke, welche in einem gewaltigen Bogen die tief eingerissene Schlucht des Noce überspringt und hinüber nach Cles führt. Der Blick von der Brücke in die furchtbare Tiefe ist schwindelerregend: wie ein schmales Silberband windet sich unter ihr der Noce durch die steilen Wände. Früher wurde dieser Verkehr durch die weiter unten gelegene Brücke Ponto alto (hohe Brücke) vermittelt, die man aber weggenommen hat; überall an der Straße machten Tafeln darauf aufmerksam, dass Ponto alto nicht mehr existire, und dieser Hinweis ist so überflüssig nicht, denn an den Bauern in den einsamen Hochthälern gehen schließlich auch so wichtige Dinge, wie die Eröffnung einer neuen Brücke – mag sie zehnmal ein Wunder der Technik sein – leicht spurlos vorüber. So sind, als Ponto alto noch stand, aber schon ohne Geländer und mit theilweise beseitigtem Belage, einige Bauern, die eine gerichtliche Vorladung nach Cles erhalten hatten, in dunkler, nebliger Nacht ohne jede Ahnung der ihnen drohenden Gefahr, ohne Ahnung davon, daß ihr Leben an einem Haare hing, den altgewohnten Weg über Ponto alto gefahren und dank dem glücklichen Instinkt ihrer „Rösser“ glücklich drüben angelangt. Ein Seitenstück zum berühmten Ritt über den Bodensee! In Cles hatte man ihnen lange nicht glauben wollen, daß sie den Großväterweg gefahren seien, und als sie sich später Ponto alto in halb abgebrochenem Zustande ansahen, haben sie sich schaudernd abgewandt und wahrscheinlich ihrem Schutzheiligen mehr als eine Kerze gespendet, um ihm für ihre wunderbare Rettung zu danken.

Um die Mittagsstunde langten wir in Cles an und kehrten im „Schwarzen Adler“ ein, dessen kaiserlicher Doppelaar herausfordernd in die Straße hinaushängt und den Italianissimi täglich und stündlich ein Dorn im Auge ist; sie schreien Verrath und möchten das Gasthaus in Verruf erklären, weil - es auch die Eigenschaft einer Studentenherberge des deutschen und österreichischen Alpenvereins erworben hat. Von Cles bis Malé konnten wir den Stellwagen benutzen, und nachdem wir unsere Rucksäcke mit köstlichem Obste vollgestopft hatten, machten wir es uns im Vordersitze bequem und lauschten den Neckereien, welche der Postillon mit einem hübschen Landmädchen austauschte, die trotz ihrer brennend schwarzen Augen jedenfalls nur ein blinder Passagier war. Sie hatte in Cles Einkäufe gemacht und nahm es nicht übel, dass wir ihr Körbchen durchstöberten; es enthielt – wohlriechende Seife und elegante Briefbogen und Couverts, an denen die Chromo-Lithographie ein Uebriges gethan hatte; der Schatz weilte also augenscheinlich in weiter Ferne, asphaltirte vielleicht sogar eine Straße im barbarischen Deutschland, während zwei Barbaren, seine Auserkorene vor sich, mit derselben auf einer der schönen Straßen hinrollten, mit denen die österreichische Regierung den Südtyrolern und ihren unsinnig geprügelten Muli (Maulthieren) so landesväterlich unter die Arme greift.

In Malẻ, das wir in der ersten Dämmerung erreichten, bot man uns diensteifrig eine carrozza zur Weiterfahrt an, doch waren wir viel zu froh, endlich wieder marschiren zu können, und guten Muthes gingen wir durch die weiche Dämmerung dem ungefähr eine Stunde entfernten Dimaro zu, das für diese Nacht unser Quartier bilden sollte. Lange grüßten die Lichter des Ortes zu uns herüber, ehe wir über die Brücke des Noce unseren Einzug in das echt italienische, finstere Gewinkel und in die „Corona“ (Krone) hielten.

Spricht man auch das Italienische ganz leidlich und ohne besondere Schwierigkeit, so thut’s doch wohl, plötzlich unerwartet aus dem Munde eines hübschen Wirthstöchterleins in ganz korrektem Deutsch nach seinen Wünschen für das Abendessen gefragt zu werden. Die Wirthe in Welschtirol verstehen sich auf ihren Vortheil und schicken ihre Töchter auf ein Jahr nach Bozen oder nach Innsbruck, damit die Dolomitenkletterer, die immer häufiger aus dem Norden angewandert kommen, nicht genöthigt sind, ein mehr oder minder fragwürdiges Italienisch radebrechen zu müssen, oder sie halten wenigstens eine des Deutschen mächtige Kellnerin, die, wenn der deutschen Gäste viele sind, eine gewisse Machtstellung im Hause erlangt. Wir waren auch bei der hübschen Illuminata gut aufgehoben und haben fürstlich geschlafen; die Erwerbung von Insektenpulver war uns zwar in Cles gelungen, aber die Betten im besten Zimmer der „Corona“ waren über jeden Verdacht erhaben. Unser nächstes Marschziel war Madonna di Campiglio, der Monte Spinale und Pinzolo im Val Rendena: eine scharfe Tagestour, so daß wir in aller Frühe ausrückten. Mein Reisegefährte hatte die Uhr in der „Krone“ zurückgelassen und wir waren schon eine gute Viertelstunde aufwärts gestiegen, als es dem uns in athemloser Eile nachsetzenden Stubenmädchen gelang, uns durch Rufen zum Stehen zu bringen; das hübsche Kind wollte nicht einmal eine kleine Belohnung annehmen, als es uns mit hochrothen Wangen die Uhr aushändigte, was ich ausdrücklich erwähnen will, da man den Italienern im Allgemeinen eine große Empfänglichkeit für Trinkgelder nachrühmen muß. Erst durch schönen Wald, durch dessen Lücken links düstere, bizarre Dolomitenzacken und Felsentürme ernst hereingrüßten, dann über die weiten, welligen Flächen der Alpe Ginevra gelangten wir an einen Wegweiser, der nach dem Val Crosté und dem Monte Spinale zeigte. Der blauen Markierung folgend, erreichten wir durch wilden Wald, in welchem die Bäume da, wo sie gefallen waren, auch vermoderten, und in welchem eine Tafel, laut welcher die Jagd reservirt ist, die einzige Erinnerung an die Zivilisation bildete, das ausgedehnte, aus vielen Hebungen und Senkungen bestehende und mit Heustadeln und verlassenen Sennhütten übersäte Plateau und die Spitze, deren „Steinmandl“ wir noch etwas erhöhten und gegen die Stürme zu festigen suchten, die in einer Höhe von etwas über 2000 Metern gehörig toben mögen, wenn sie aus den Schluchten der Brentagruppe herüberbrausen.

Mein Freund kam hier den Dolomiten zum ersten Male so nahe, daß ihre todtenähnliche Starrheit und eigenthümliche Wildheit den tiefen Eindruck auf ihn machte, dem sich Keiner zu entziehen vermag, der ihnen zum ersten Male entgegentritt. Ueber den grünen Wällen der Ginevra-Alpe ragten die schneeigen Häupter der Presanellagruppe auf, und wir würden uns schwer von diesem prächtigen Punkte getrennt haben, wären wir nur einigermaßen mit Lebensmitteln versehen gewesen. So aber ergab die Inventur, welche wir in einer verlassenen, offenen Hirtenhütte bezüglich des Inhalts unserer Rucksäcke anstellten, ein wahrhaft klägliches Resultat. Neben einigen Stückchen des charakterlosen, blasigen Weißbrotes, das man überall vorgesetzt bekommt und das ich in frischem Zustande überhaupt noch nie zu erlangen vermochte, gab es nur ein Endchen Wurst, das noch aus der Heimat, ein Restchen Rostbraten, das aus Mitterdorf-Kaltern stammte und von dem ich heute noch nicht begreife, warum ich es nicht längst einem der hungrigen Köter zugeworfen hatte, die sich mit eingeklemmtem Schwanze und stets auf der Flucht befindlich in den italienischen Dörfern herumtreiben und die ihr Dasein fristen, so gut sie eben können. Einige Birnen und eine halbe Flasche lauwarm gewordenen Rothweines vervollständigten das Mahl, das wir in dem Blockhause einnahmen, und doch hat uns schwerlich die opulenteste Mahlzeit je nur halb so gut gemundet, wie dieses unzulängliche Kompromiß zwischen dem hungrigen Magen und dem schmalen Vorrath. Ich glaube, selbst die Ochsenhirten, die während der paar schönen Monate hier oben die urwüchsigste Sommerfrische genießen, sind keinen Mittag so übel daran gewesen, wie wir. Sonst führen sie ja ein primitives Dasein. Ein abgerinderter Baumstamm, der drehbar in den Boden gerammt war, streckte einen stehen gelassenen, starken wagerechten Ast über die kleine Bodenvertiefung, die als Feuerstätte diente. An diesem Ast hingen sie augenscheinlich den Kessel auf, in welchem sie die unvermeidliche Polenta bereiteten, und drehten den Baum zur Seite, wenn die Götterspeise nicht mehr der vollen Hitze bedurfte. Ihre Lagerstätten bestanden aus mit welkem Laube gefüllten offenen Kästen, auf deren Rändern wir bei unserem kargen

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Rudolf Lavant: Eine Bergfahrt in Süd-Tirol. Goldhausen, Leipzig 1900, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Bergfahrt_in_S%C3%BCd-Tirol_34_01.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)