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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

44 120. Was sind Einzellaute?


verschieden empfunden und demnach nicht in einen Gegensatz zu einander gestellt werden. Wie viel von den Unterscheidungsmerkmalen der einzelnen Lautexemplare als gegensätzlich und demnach als wesentlich empfunden wird, lässt sich natürlich nicht allgemein bestimmen. Es herrscht da grosses Schwanken. Wie wir gesehen haben, werden z. B. bei den Vocalen (bez. bei den Sonanten überhaupt) Unterschiede der Tonstärke nicht als wesentliche Unterscheidungsmomente aufgefasst. Wenn im Deutschen das a einer ‘unbetonten’ Silbe regelmässig schwächer ist als das einer ‘betonten’ Silbe, so trifft diese Unterscheidung ja nicht den Vocal an sich, sondern die Silbe, in der er steht. Anders bei den Consonanten. Auch die Öonsonanten unbetonter Silben stehen denen der Tonsilben an Stärke nach, wie die Vocale in entsprechender Stellung; aber unabhängig von dieser Abstufung nach der Silbenstärke haben viele Sprachen auch noch eine selbständige Abstufung der Consonanten nach Stärke und Schwäche entwickelt, unterscheiden also z. B. starke und schwache f, s, ch oder starke und schwache stimmlose Verschlusslaute (359) u.dgl. Man kann also keineswegs behaupten, dass die Druck- bez. Tonstärke bei den Definitionen der ‘Einzellaute’ und ihrer Gruppen als unwesentlich überall bei Seite zu lassen sei, und so zeigt sich auch von dieser Seite, dass es unmöglich ist, eine zweckdienliche Eintheilung der Sprachlaute bloss auf Grund ihrer Articulationsstellung zu geben.

120. Allerdings ist es richtig, dass Unterschiede der Articulationsstellung in der Regel auffälligere Verschiedenheiten bedingen, als Unterschiede der Tonstärke oder Tonhöhe. Ein f und s stehen z. B. sicher einander ferner, als ein starkes und schwaches f oder ein starkes und schwaches s. Man wird also zugeben dürfen, dass die Frage nach der Articulationsform eines Lautes im Allgemeinen der nach seiner Stärke vorauszugehen hat. Bedingt aber jede Verschiedenheit der Articulationsform nun auch die Aufstellung eines besonderen Einzellautes (der dann eventuell sogar noch nach Abstufungen der Stärke zu spalten wäre)? Theoretisch gewiss, aber in praxi lässt sich auch diese Regel nicht durchführen. Die Zahl der hiernach zu unterscheidenden Einheiten behält immer noch eine verwirrende Grösse, und so bleibt abermals nichts anderes übrig, als von gewissen, weniger wesentlichen Unterschieden auch der Articulationsform unter Umständen für die Definition des Einzellauts abzusehen, und wieder bietet sich uns hier das Princip der Unterscheidung nach gegensätzlicher und nicht

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/64&oldid=- (Version vom 23.5.2022)