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in Europa überall ihr Haupt, und so fand selbst im Kunstgeschmack ein Umschwung statt. Dieser machte sich in der Weise geltend, daß die früher ganz vernachlässigten Quattrocentisten einigermaßen wieder zur Geltung kamen. Man machte damals wenigstens den Anfang bei Beurtheilung von Kunstwerken auch der Zeit, in der dieselben entstanden, Rechnung zu tragen, und bahnte damit, obschon unbewußt, der Auffassung den Weg, daß die Kunst als ein organisches Ganzes zu betrachten sei. So weit es eben thunlich war, suchte man auch bei Anlegung einer Bildersammlung historische Principien in Anwendung zu bringen.

War Berlin gegenüber Dresden und München insofern im Nachtheile als zur Erwerbung von Prachtwerken die günstige Zeit längst schon vorüber, das Beste, so zu sagen, schon vergriffen und in sicherem Besitz fremder Hand war, so hatte die preußische Regierung andererseits den großen Vortheil, bei der Bildung ihrer Kunstsammlungen nach historischen Grundsätzen, also auch mit mehr Kritik verfahren zu können.

Es war ein Glück für die im Werden begriffene Berliner Galerie, daß in den ersten Decennien unseres Jahrhunderts die Praeraffaeliten in den Augen der s. g. Kunstfreunde noch immer einen relativ untergeordneten Werth hatten und allenthalben den Bildern aus der Epoche der Carracci hintenangesetzt wurden. Diesen Zeitgeschmack mit glänzendem Erfolg ausgenutzt zu haben, ist das Verdienst des englischen Banquiers Solly, der dabei mit jenem persönlichen Criterium des Werthes von Kunstgegenständen verfuhr, das seine Fachgenossen, vom Coelner Jabach an bis auf die heutigen Rothschilde herab, ausgezeichnet hat. Die seinen Landsgenossen eigene Meisterschaft im Sammeln scheint ihm überdies angeboren gewesen zu sein. Diesem verständigen Kunstfreund war es geglückt, während dem zweiten Decennium unseres Jahrhunderts mit relativ sehr geringen Kosten eine Gemäldesammlung zu Stande zu

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/287&oldid=- (Version vom 31.7.2018)