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die Umrisse dieser Dresdner Zeichnung etwas ängstlich, die Modellirung flauer und schwächer, als bei Leonardo. Ebenso ist die Strichlage nicht die, welche dem da Vinci eigenthümlich ist. Hier gemahnt der Mund mit den schwülstigen Lippen, die Nase mit den kleinen rundlichen Oeffnungen, die übergroßen weit auseinanderstehenden Augen mit den gar zu langen Wimpern, die schwulstige Falte des Kleides auf der Brust, das darauf angebrachte Medaillon eher an des Leonardo da Vinci Lehrer Andrea del Verocchio oder, mehr noch, an dessen getreuen Schüler und gewissenhaften Nachahmer, Lorenzo di Credi, an welchen ebenfalls der kleine pausbackige Kinderkopf neben der rechten Schulter des Weibes, leicht hingeworfen erinnert. Meiner Ansicht nach ist diese etwas verwischte Silberstiftzeichnung im Cabinet der Handzeichnungen zu Dresden nicht dem Lionardo, sondern dem Lorenzo di Credi, seinem Mitschüler bei Verocchio, zuzuschreiben. Doch davon abgesehen, drängt sich uns die Frage auf: ist der Meister der Silberstiftzeichnung in Dresden wirklich auch der Maler des kleinen Madonnenbildes unter Nummer 30 in der Galerie daselbst? Wäre es nicht möglich, daß die Zeichnung oder auch ein jetzt verschollenes Bild des Lorenzo di Credi direkt oder indirekt irgend einem damals (1470–85) in Florenz lebenden Niederländer zum Vorbilde gedient hätte? Schon die gläserne Farbe dieses Gemäldes hat etwas an sich, das an irgend einen späteren Nachkommen der van Eyck’schen Schule erinnert; nordisch ist auch der wie ein Pfropfzieher gewundene Vorhang, das kleinliche, sehr bürgerlich aussehende Kissen mit Quasten auf dem Bette, sowie der kleine Johannes, der gotterfüllte Sohn der Elisabeth, mit seinem gar zu einfältigen Ausdrucke. Das Alles spricht, mein’ ich, deutlich genug gegen die Ansicht der Herren Hübner und Gruner. Und hätte wohl Lionardo selbst zugegeben, daß er das Bildchen nicht in seinem achtzehnten, sondern schon in seinem zwölften Lebensjahre

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/261&oldid=- (Version vom 31.7.2018)