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behaupte, oder bloß Kopie, wie Herr Louis Courajod siegreich nachgewiesen zu haben wähnt?

Zur Lösung dieser Streitfragen giebt es, glaub’ ich, nur einen Weg, nämlich authentische, außer aller Frage stehende Handzeichnungen des Antonio Pollajuolo mit der Zeichnung im Münchener Cabinet zu vergleichen. Tragen diese authentischen Zeichnungen des Meisters dieselben charakteristischen Kennzeichen an sich, wie die in der Münchener Sammlung, nun so ist die Frage zu meinen Gunsten entschieden, im entgegengesetzten Falle würde ich wenigstens insofern Unrecht haben, als ich in dieser Zeichnung ohne Grund die dem Antonio Pollajuolo eigenthümlichen Züge wahrzunehmen glaubte. –

Was ist nun überhaupt eines Künstlers Eigenthümlichkeit, und wie kann man sie fassen und begreifen lernen? Ich beantworte diese Frage ganz einfach: Dadurch, daß man nicht allein auf die Vorzüge, sondern vielmehr noch auf die Unarten eines Meisters sein Augenmerk richte, da diese letzteren viel leichter und schärfer in die Augen fallen als die ersteren, von denen sie meistens doch bedingt sind. (Siehe darüber meine Aufsätze über die Borghese Galerie, in der von Lützow’schen Zeitschrift für bildende Kunst, Jahrgang IX). Antonio del Pollajuolo nun erscheint mir in allen seinen Werken als ein Künstler voll Energie und Charakter, dagegen baar aller Anmuth, einer Gabe, die andererseits seinem jüngern Zeitgenossen Leonardo da Vinci im reichsten Maaße von der gütigen Natur beschieden war. Um nun vom Allgemeinen zum Besonderen zu kommen, so glaube ich feststellen zu dürfen, daß, während die echten Handzeichnungen des Leonardo entweder mit der rothen oder schwarzen Kreide, mit dem Silberstift oder der Feder ausgeführt sind, jene des Pollajuolo entweder bloß mit der Feder, oder aber mit der Feder scharf umrissen und mit der Sepia schattirt sind. Diese letztere Manier, in der auch die Münchener Zeichnung des Sforza Reiterbildes ausgeführt ist, weist alle

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/131&oldid=- (Version vom 31.7.2018)