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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


Die leere Wiege.
Nach dem Gemälde von Eug. Buland.


hätten sie dem Ringen des deutschen Volkes zugeschaut und seinen Dichtern gelauscht. Und wenn uns Longfellow von den Eindrücken, die er von deutschem Boden, deutschem Leben und deutscher Sitte erhielt, in seinen Liedern vom Rhein und der Donau, aus deutscher Sage und Weimars klassischer Zeit erzählte, so empfingen wir für unsere anfangs schwankende und oft schwierige Existenz in der neuen Heimat wieder einen festen, kräftigeren Inhalt. Angewiesen auf den Kampf ums Dasein, um unter ganz fremden Verhältnissen hier für das Notdürftigste an materiellen Gütern zu sorgen, war unser Leben oft arm an Freude und Genuß, und unser Bedürfnis, zu lieben und zu verehren, das in unserer deutschen Natur lag, klammerte sich an die großen Erinnerungen der Revolutionszeit und die Namen der Männer in Deutschland, mit denen wir Schulter an Schulter gekämpft hatten und von denen uns unsere amerikanischen Freunde erzählten, daß in ihnen das reine Feuer der politischen Begeisterung nicht erloschen sei. Vom Frankfurter Parlamente aber sagten sie, nach allem, was sie davon gehört hatten, daß es eine der großartigsten Volksversammlungen gewesen sei, deren man sich erinnern könne.

Ferner empfanden wir eine hohe Genugthuung, wenn wir in Amerika von hochgestellten und vorurteilslosen Männern rühmen hörten, welche große Zahl intelligenter und gebildeter Männer im besten Lebensalter durch unsere Einwanderung in ihr Land gekommen sei; wenn sie uns versicherten, daß sie diesen Zuwachs, der in der Geschichte kaum seinesgleichen finde, aufs freudigste begrüßten. Sie sagten uns, daß eigentlich erst die ,Achtundvierziger’, trotzdem sie als Flüchtlinge kamen, ihnen durch ihre Bildung, durch den hohen Ernst, mit dem sie sich in der Neuen Welt eine geachtete Stellung und den Einfluß auf das politische Leben in ehrlichem Kampfe zu erringen suchten, erst Achtung vor deutscher Kultur und Wissenschaft eingeflößt hätten.

In die Hochschulen Deutschlands, wo der Sinn für alles Gute, Wahre und Schöne gepflegt wird, ihre Söhne zu senden, kam erst zu jener Zeit in amerikanischen Familien in weiterem Umfange auf. Vor 1848 galt hier England als Hochsitz der Bildung. Das alte Mutterland der Angloamerikaner, obgleich es sich zu Zeiten als Stiefmutter gezeigt hat, steht ja auch heute bei uns wegen seiner Institutionen, sowie in Beziehung auf Kunst und Wissenschaft in hohem Ansehen. Aber in der neueren Zeit wurde Deutschland für viele Amerikaner und besonders für diejenigen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 721. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0721.jpg&oldid=- (Version vom 8.2.2023)