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Transportfähigkeit der Apparate und bei schweren, rasch verlaufenden Krankheiten die mit ihrer Anwendung verbundene Belästigung des Kranken entgegen. Mit ausschlaggebendem Nutzen wird dasselbe an der hinten in der Brust verlaufenden Speiseröhre angewendet werden, um Erweiterungen, Verengerungen und Geschwülste derselben sicher nachzuweisen, zu welchem Zwecke man jedoch öfters mit Lösungen von Metallsalzen gefüllte Kautschukröhren oder metallische Sonden als Hilfsmittel verwenden muß, was bei Aufsuchung der so häufig von Kindern verschluckten und im Schlunde steckengebliebenen Knöpfe, Münzen u. dgl. nicht nötig ist. Wie segensreich gerade in den zuletzt genannten Fällen die Röntgenphotographien sich erweisen können, geht am besten daraus hervor, daß wegen Unauffindbarkeit mit den alten Untersuchungsmethoden bisher von solchen Fremdkörpern gar manches Kind nicht befreit werden konnte und infolgedessen nach langem Leiden daran sterben mußte. Auch die nicht seltenen Geschwülste und Verengerungen des Mageneingangs sind auf die gleiche Weise leicht zu erkennen. Ebenso sind Vergrößerungen resp. Verkleinerungen des Herzens durch das neue Verfahren, das ja auch bei der Kaiserin von Oesterreich kurz vor ihrer schmachvollen Ermordung angewendet ward, festzustellen; doch muß betont werden, daß hier Täuschungen leicht möglich sind. Weniger der Fall ist das bei Erweiterungen (Aneurysmen) der aus dem Herzen unmittelbar entspringenden großen Schlagadern und namentlich bei den so häufigen Kalkeinlagerungen in die Wände dieser und auch aller übrigen Pulsadern und der Herzklappen.

Seitliche Verdrängung des Herzens durch wässerige oder eiterige Ergüsse in die Brusthöhle oder durch Geschwülste lassen sich mit Sicherheit für das Auge nachweisen, gleichwie auch Füllung und Ausdehnung der häutigen Umhüllung des Herzens, des sogenannten Herzbeutels, durch Flüssigkeitsansammlungen in diesem infolge von Entzündungen oder Wassersucht. Auch die ebenso interessante wie seltene angeborene umgekehrte Lage des Herzens – und in der Regel auch der Leber und Milz –, wobei das Herz und die Milz rechts und die Leber links, also dem gewöhnlichen Zustande gerade entgegengesetzt, zu finden sind, sowie das noch seltenere Fehlen der knöchernen Brustwand vor dem Herzen lassen sich mittels Röntgenverfahrens sichtbar machen. Im Gehirn aber hat man damit in vereinzelten Fällen durch die Schädelknochen hindurch Geschwülste nachweisen können. Manchmal gaben die Röntgenphotographien wertvolle Aufschlüsse über Erkrankungen und Veränderungen in der Unterleibs- und Beckenhöhle, z. B. bei Magen- und Darmerweiterungen und -Verengerungen, Geschwülsten des Magens, der Leber und Nieren (Blasenwürmer), der Milz, bei Anschwellungen dieser beiden letzten Organe. Verschluckte Münzen, Knöpfe, Kugeln, Nägel etc., welche in dem Darmkanal weiter wandern, Darmsteine, die besonders bei Pferden in außerordentlicher Größe oft vorkommen, und Nadeln die, in den Darmwandungen sitzen, lassen sich unter Umständen leicht erkennen. Gar nicht oder doch nur in seltenen Fällen sind dagegen Gallensteine durch die Röntgenstrahlen zu erforschen, obwohl dies bei der Häufigkeit und großen Schmerzhaftigkeit derselben von großem Vorteil wäre, was auch für Nierensteine gilt, während Steine im Blaseninnern mittels Röntgenphotographien nachzuweisen vielfach gelungen ist.

Wenn in vielen der bisher aufgeführten Krankheiten noch Zweifel über die Unersetzlichkeit des neuen Erkennungsmittels aufkommen konnten, so ist das nicht mehr der Fall, wenn es sich um die Aufsuchung und den Nachweis gewisser Verletzungen und Erkrankungen der Knochen und des Sitzes von im Körper zurückgebliebenen, namentlich metallischen Fremdkörpern handelt. Hier ist die Feinheit desselben so groß, daß man noch die Gegenwart z. B. von kleinen Eisensplittern, Nadelspitzen etc. bis herab zur Länge von Millimetern und zum Gewichte von Hundertsteln eines Gramms nachgewiesen hat. Und das nicht bloß in oder nahe unter der Haut, sondern auch tief im Fleische und in Körperhöhlen: im Schädel, in den Augenhöhlen, im Augeninnern, in der Brust, im Unterleib, im Kniegelenk, in der Knochenhaut etc. Man fand Kugeln, Schrotkörner, Draht- und Nadelstücke, die zum Teil in Knochen staken, nicht bloß in frischen Fällen, sondern auch in ganz veralteten, in denen die Kranken die Ursache ihrer Beschwerden gar nicht kannten und nicht wußten, daß sie z. B. Nadeln in den Fingern beherbergten, sondern ihre Schmerzen den „Nerven“ zuschrieben, die keinem Mittel wichen, dann aber mit Hilfe von oft nur kleinen chirurgischen Eingriffen rasch beseitigt wurden. Uebrigens muß bemerkt werden, daß es nicht gerade immer notwendig ist, die durch die Röntgenstrahlen gefundenen Fremdkörper auch zu entfernen, wie der Laie glaubt, im Gegenteil wird man, wenn sie, wie das nicht selten der Fall ist, ohne Beschwerden zu machen, eingeheilt sind, sie nach wie vor unberührt lassen und nur dann operativ gegen sie vorgehen, wenn sie Schmerzen und Gesundheitsstörungen bewirken. In solchen Fällen weiß man aber jetzt ganz genau, an welcher Stelle sie bestimmt zu finden sind, und kann, wenn nötig, gerade auf sie losschneiden, ohne, wie früher, halb oder ganz im Dunkeln zu tappen.

Bei Zerschmetterungen der Knochen, Knochenbrüchen, Verrenkungen, Absplitterung von Knochenstücken, wie sie namentlich in der Nähe der Gelenke häufig sind, falschen Stellungen der Knochen etc. blieb man seither oft über deren Ausdehnung und Art im Ungewissen und damit auch über Mittel und Wege der Behandlung. Das fällt nunmehr auch zum großen Teile weg durch die Röntgenphotographie. Mit ihrer Hilfe kann man z. B. bei frischen Knochenbrüchen und Verrenkungen, trotz bedeutender Anschwellung der Weichteile, die gegenseitige Lage der Knochenenden feststellen und dann sich davon überzeugen, ob die Einrichtung derselben vollkommen gelungen oder ob Neueinrichtung oder Nachhilfe nötig ist; man kann also die Diagnose und den Heilungsverlauf überwachen, nach der Verheilung aber sehen, ob die Knochen richtig oder falsch zu einander stehen.

Ein anderes Gebiet für die Röntgenphotographie liefern die angeborenen Miß- und Verbildungen im Knochensystem – aber auch, wie hier nachträglich bemerkt werden soll, eben solche an inneren Organen –: Klumpfüße, überzählige Finger und Zehen, Knochenspalten, Ausfall einzelner Knochen etc., bei denen die photographische Platte jetzt genaue Einsicht in die vorhandenen Abweichungen giebt, die am Lebenden seither unmöglich war. Auch unter den im engeren Sinne so genannten Erkrankungen des Skeletts wurde die Liste der mit Röntgenstrahlen erkannten immer größer, da man heutzutage nicht bloß knöcherne Verwachsungen der Gelenkflächen, Gichtknoten resp. Kalkablagerungen um und in den Gelenken, knöcherne Auswüchse und Geschwülste an den Knochen, Verknöcherungen der Knorpel an den Knochenenden, frei im Innern der Gelenke bewegliche Körper, sogenannte Gelenkmäuse, durch Knochenfraß abgestorbene Knochensplitter in ihren eigentümlichen Knochenhülsen, Knochenerweichung (Osteomalacie) und Knochenendeverdickung bei Englischer Krankheit etc., sondern auch schwere Erkrankungen des Knocheninnern, wie Knochenmarkentzündung und namentlich tuberkulöse Knoten und Erweichungen viel früher und sicherer als vordem erkennt.

Auch als Heilmittel hat man die Röntgenstrahlen bereits angewandt. Es sollen damit namentlich Besserungen, ja Heilungen von sogen. fressenden (Lupus) wie gewöhnlichen Flechten (Eccem) und Beseitigung von behaarten Muttermälern, überhaupt von falschen Haarbildungen bewirkt worden sein. Freilich, auch die normalen Kopfhaare sind schon den Strahlen zum Opfer gefallen, insofern manchmal die Anwendung derselben diese unliebsame Folge hatte, wie sie auch ernste Entzündungen der Haut, gleich der Sonne beim Sonnenstiche, zeitigte, die man aber neuerdings zu vermeiden gelernt hat. – Angefügt soll noch werden, daß man sie in Zukunft zur Desinfektion verwerten will, da sie Bakterien zu töten imstande sind, wie übrigens das elektrische Bogenlicht und das Sonnenlicht auch. – Schließlich lassen sie sich oft mit Nutzen zur Entlarvung von Simulanten verwenden, umgekehrt aber manchmal auch dazu, einem, der als solcher gilt, zu seinem Rechte zu verhelfen.

Somit wurde durch die Röntgenstrahlen, obwohl sie selbst noch niemand gesehen hat, da die Netzhaut des Auges für sie unempfindlich ist, in der Medizin und Chirurgie ein neues Licht geschaffen. Und so findet denn das ergreifende Sehnsuchtswort, mit welchem einst Goethe sein lichtspendendes Leben beschloß, „Mehr Licht!“, in immer neuen Formen zum Heile der Menschheit seine Erfüllung.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0663.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2023)