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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

getreue Vorsteher und Mitlandleute, lade ich euch nach altem Brauch zu einem kleinen Imbiß ein und bitte die Ehrenjungfrauen im Plantahaus und in den anderen Häusern der Nachbarschaft eurer zu warten.“

„Hoch der Landammann – hoch – hoch!“ schallt es, und bald erdröhnt das Plantahaus unter den Schritten der zuströmenden Gäste; doch dauert es eine Weile, ehe sich der erste in das Gemach Cilgias findet, die vor ihr helles und blumiges Kleid eine blitzblanke Schürze gebunden hat.

„Ihr, Herr Konradin – das ist hübsch! Die Poesie hat man immer gern. Doch denkt, ich habe Menja Melcher, Eure Flamme, kennengelernt.“

Der Angeredete ist ein Jüngling von zwanzig Jahren, nicht besonders hübsch, etwas mißfarbig, sommersprossig und, obgleich er den Zweispitz und den Degen des Junkers trägt, von linkischer Art. Ein Aufleuchten geht über sein gutmütiges Gesicht, allein es erlöscht rasch, und traurig sagt er: „Ich wage es heute nicht einmal, Menja Grüß Gott! zu bieten. Mein Vater grollt dem ihrigen so schwer!“

„Er hat sie doch als Ehrenjungfrau geladen,“ bemerkt Cilgia teilnehmend.

„Das wohl. Die Väter sind zwei vornehme Gegner, aber darum nicht weniger hart gegeneinander. Es geschah nur, um keine Todfeindschaft heraufzubeschwören, und aus dem gleichen Grund hat Melcher die Menja hierhergehen lassen. Denkt, wir wohnen in St. Moritz, Fenster gegen Fenster, an der gleichen Straße. Da muß jeder etwas überwinden.“

„Da seht Ihr sie doch häufig,“ scherzt Cilgia. „Aber sagt, was haben denn Eure Väter gegeneinander?“

„Ach, Fräulein Cilgia – ein alter Handel um die Sauerquelle von St. Moritz; mein Vater hängt an den Zeiten, die vergangen sind, der ihrige an denen, die kommen sollen; die unglückselige Gefangennahme des meinen ist dazu getreten, er redet sich ein, niemand als Melcher habe ihn an die Franzosen verraten. Die Wahrheit ist: es hat gar keinen Verrat gebraucht, denn es ist landbekannt, daß mein Vater an Oesterreich hängt und die Franzosen nicht leiden mag, obgleich mein Bruder Alfons im Dienst Napoleons steht. Wißt aber, Fräulein Cilgia, Melcher siegt, er hat die Jugend für sich. Sagt ehrlich, hat Euch heute die Rede meines Vaters gefallen?“

Mit lebhaften Augen und roten Wangen fragt es Herr Konradin.

Cilgia will nicht bekennen, daß sie die Rede, von den eigenen Gedanken gefangen genommen, überhört hat, und bejaht freundlich.

Konradin von Flugi, der sich auf einen Stuhl gesetzt hat, steht auf.

„Ich hätte die Rede anders gehalten,“ zürnt er. „Es ist lächerlich, mit geheimen Hoffnungen, die sich nie erfüllen werden, das Volk zur Zufriedenheit, zur Bescheidenheit, zum Sichfügen in die Ratschlüsse Gottes zu mahnen. Unser Engadin hat noch nie gepraßt, und jetzt, wo es nichts mehr zu beißen hat, gehört ihm ein anderes Wort. Einen Spiegel soll man ihm vorhalten und die Krebsschäden aufdecken, die an seinem Mark nagen, und es mahnen: die Zeit der großen, selbstgenügsamen Faulenzerei ist vorbei, das Herrenspiel von Jahrhunderten her ist aus. Das Veltlin ist gefallen. Wir wollen jetzt zu arbeiten anfangen. Laßt uns Straßen bauen, damit der Verkehr von Deutschland nach Italien wieder wie in früheren Jahrhunderten über Bünden geht; kündigt den Bergamaskern unsere Alpen, damit wir selbst Alpwirtschaft treiben; laßt unsere Jugend Handwerke lernen, damit wir nicht jeden Kessel, der eine Beule hat, nach Chur oder Cleven zum Flicken schicken müssen, sucht das Heil nicht in der Auswanderung, die wohl etwas Geld zurückbringt, aber unser Volk langsam in der Fremde hinsiechen läßt! Freie arbeitsame Engadiner im Engadin – das sei die Zukunftslosung! Einen Mann aber, Fräulein Cilgia, einen mutigen Mann sollten wir haben, der es ohne Menschenfurcht sagt, was not thut, und selber Hand anlegt.“

Mit schöner Lebendigkeit sprach der Jüngling.

„Werdet selbst der Mann, Herr Konradin,“ lacht ihn Cilgia mit einem vollen warmen Blicke an.

Allein die Glut auf dem Gesichte des Jünglings, die es mit einer Art Schönheit geschmückt hat, weicht der Trostlosigkeit und hält den glänzenden Augen Cilgias nicht stand.

„Ich habe kein Talent dazu,“ sagt er gedrückt, „ich bin ja doch nur ein schwächlicher Poet – ich könnte mit meinem Vater nicht brechen – ich bin nicht rücksichtslos genug – ich bin der wohlerzogene Sohn eines Adelshauses, mit allen Gebrechen eines solchen Sohnes. Die Wiedergeburt des Engadins muß von Einem herbeigeführt werden, der – hau’ es, stech’ es – seinen Weg geht. Und die wachsen nur in der Tiefe – in den Hütten!“

In diesem Augenblick öffneten zwei junge scheue Geschwister in schäbigem Trauergewand die Thür des Gemachs, wollten sich aber wieder zurückziehen.

„Kommt nur, Pia,“ rief Cilgia, „da sind ganze Haufen Kuchen für euch und Raum, wie ihr seht!“

Da setzen sich die beiden, Bruder und Schwester, schüchtern und beginnen an dem Gebäck zu knuspern.

„Es sind die Waisenkinder des verunglückten Fischers Colani, Pia ist unsere kleine wilde Ziegenhirtin und ihr Bruder Orland will in die Fremde ziehen,“ wendet sich Cilgia an den Junker.

„Also auch ein Opfer unserer Mißstände,“ antwortet er bitter und verabschiedet sich, um seine Freunde aufzusuchen.

Cilgia wendet sich zu den Geschwistern und ermuntert sie zum Essen.

„Du hast ja Wangen wie Alpenrosen, braune Pia!“

Das Kind, sonst eine wilde Hornisse, drängt sich zärtlich an den Bruder, wie wenn es sich die Gesichtszüge des schönen gebräunten Burschen noch recht fest ins Gedächtnis prägen wolle.

„Sie hat so heiß, weil sie sich von der alten Golzin hat wahrsagen lassen,“ giebt an ihrer Stelle Orland Bescheid, ein frischer Junge, dem man es wohl ansieht, daß er sich durch die Welt schlagen wird.

„Und was prophezeit sie euch Gutes?“ fragt Cilgia neugierig.

„Mir geht’s übel und ich bleibe ledig,“ giebt die braune Pia mit funkelnden Augen zurück, „mein Bruder aber wird angesehen und reich.“

Die kleine rassige Hummel spricht es mit felsenfestem Glauben und schlingt den schmalen Arm um den Hals des Bruders. „Wenn du reich und angesehen bist, so komme ich zu dir, Orland – und wenn ich schon tot wäre, so stände ich aus dem Grabe auf und käme zu dir, Orland, um zu sehen, wie es dir gut geht!“

Der Zärtlichkeitsausbruch überrascht Cilgia an dem Kind, das in Pontresina als ein böser, kratziger Waldteufel voll toller Einfälle gilt, die sich namentlich gegen die etwas kindisch gewordene Großmutter richten. Pia liebt es, der Alten eine Menge Blumen ins schneeweiße Haar zu stecken und ihren Rock mit Tannenzapfen zu behängen, und wenn die Alte so durch das Dorf geht und alles lacht, beißt sie sich vor Vergnügen in die Finger.

Jetzt ist sie ganz zahm und abschiedsergeben.

Allmählich füllt sich das Gemach Cilgias, doch, weil es so entlegen ist, meist mit einfachen Leuten, Wegern und Säumern.

Ihr aber bereitet es just Spaß, das verwitterte Werkvolk mit großer Liebenswürdigkeit zu bewirten.

Während sie eine frische Platte Kuchen aufstellt, hört sie plötzlich den Namen Markus Paltram.

Die Gäste sprechen von seinem Adlerschuß, und was sie nun weiter hört, fesselt sie so, daß sie ihre Pflichten als Wirtin völlig vergißt.

„Er ist ein Camogasker,“ behauptet ein struppiger Weger, „in der Nacht, als er zur Welt kam, gingen hoch oben in der Ruine Guardaval die Lichter hin und her, als ob ein Fest wäre.“

„Ich weiß, was ich weiß,“ prahlt der Säumer Tuons, der sein Birkenzweiglein aus dem Munde genommen hat und die Arme breit auf den Tisch stützt, „es wird bald genug eine Geschichte an den Tag kommen, die zeigt, was er ist.“

Und er grinst geheimnisvoll.

Ueber Cilgias Gesicht verbreitet sich die Purpurröte der Angst.

Und Tuons erzählt: „Ich habe seine Mutter als Mädchen wohl gekannt. Ich war zehn Jahre beim reichen Romedi zu Madulein im Dienst und hätte selber Lust für die stolze Gredy gehabt. Da hat sie aber zu Simon und Judä am Piz Mezzân, dort wo an diesem Tag kein Mädchen hingehen soll, gewildheut, da ist der Jäger gekommen. Sie hat, weil er so schön gewesen

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